Als Gott ein Kaninchen war
Schwester, Tochter oder Frau wiedersehen würden. Es war kühl im Schatten, und ich hauchte mir reflexartig in die Hände, nicht nur gegen die Kälte, die ich schon nicht mehr spürte, sondern auch aus Nervosität.
» Zigarette?«, hörte ich eine Stimme hinter mir fragen.
Ich drehte mich um und lächelte in das Gesicht einer Frau.
» Nein, danke– aber nett von Ihnen«, sagte ich.
» Das erste Mal hier?«, fragte sie.
» Ist das so offensichtlich?«, erwiderte ich.
» Ich merke das immer«, erklärte sie und zündete sich lächelnd die Zigarette an, eine Geste, die ihren Mund zu einer schiefen Grimasse verzog. » Wird schon schiefgehen«, fügte sie hinzu und blickte zum Tor hinüber.
» Ja«, sagte ich ohne Überzeugung, denn ich war mir da nicht so sicher.
» Kommen Sie schon lang hierher?«, erkundigte ich mich und bereute die Frage, sobald die Worte heraus waren, aber sie war nett, lachte und verstand sofort, was ich meinte.
» Fünf Jahre. Sie kommt nächsten Monat raus.«
» Gut.«
» Ist meine Schwester.«
» Okay.«
» Hab so lange ihr Kind.«
» Heftig.«
» Kommt vor«, meinte sie. » Wer ist’s bei Ihnen?«
» ’ne Freundin.«
» Wie lang?«
» Neun«, antwortete ich und gewöhnte mich langsam an die knappe Form dieser Unterhaltung.
» Mensch«, sagte sie. » Klingt ernst.«
» Sieht so aus.«
Plötzlich rannte ein Kind kreischend zum sich öffnenden Tor.
» Los geht’s«, sagte sie und nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, bevor sie sie wegschnippte. Das Kind kam zurückgerannt und stampfte darauf, als sei es eine Ameise.
» Na dann, viel Glück«, sagte die Frau zu mir, als sich die Schlange langsam in Bewegung setzte.
» Ihnen auch«, sagte ich und spürte plötzlich wieder meine Nervosität.
Ich war natürlich schon früher durchsucht worden– an Flughäfen, Bahnhöfen, Theatern oder ähnlich öffentlichen Orten–, aber diesmal fühlte es sich anders an. Zwei Monate zuvor hatte die IRA wieder angefangen, Anschläge zu verüben, erst im Hafenviertel und dann in einem Bus in Westminster. Alle waren sehr nervös.
Der Beamte durchsuchte die kleine Tasche voll armseliger Sachen, die ich für Jenny Penny mitgebracht hatte, Erinnerungen von der Welt draußen, und breitete alles auf dem Tisch aus, als sei es zu verkaufen: Briefmarken, CD s, eine gute Gesichtscreme, ein Deo, einen Kuchen, ein paar Zeitschriften und einen Schreibblock. Ich hätte noch viel mehr mitbringen können, in dem Glauben, solche Anschaffungen würden ihre Zelle größer erscheinen lassen, die Tage kürzer und ihre Realität erträglicher machen. Der Beamte wies mich noch darauf hin, dass das Küssen verboten sei, woraufhin ich errötete, obwohl das, worauf sich die Bemerkung bezog, in meinem Leben normal gewesen war. Ich packte die Sachen wieder zurück in die Tasche, als er bereits die nächste Person in der Schlange heranwinkte. Ich ging weiter in den Besuchersaal, wo die Luft reglos und abgestanden war, als würde auch sie ihre eigene von der Welt abgeschiedene Strafe absitzen, und nahm an dem mir zugewiesenen Tisch Platz. Es war der Tisch Nummer fünfzehn, von dem aus ich einen guten Blick auf den ganzen Raum hatte.
Die Frau, mit der ich mich in der Warteschlange unterhalten hatte, saß ziemlich weit vorne und unterhielt sich mit einem Mann am Nachbartisch, und ihr Gespräch ging in dem leisen, erwartungsvoll summenden Stimmengewirr auf. Ich beugte mich hinunter zu meiner Tasche, um eine Zeitschrift herauszuholen, weshalb ich das Eintreten der ersten Insassinnen verpasste. Sie trugen normale Kleidung und schlenderten winkend auf ihre Freunde oder Familienangehörigen zu, und die Stimmen wurden lauter, während sich ganz natürliche Begrüßungsszenen abspielten. Ich blickte zur Tür, betrachtete die Gesichter, die hereinkamen. Der Gedanke, dass ich sie vielleicht gar nicht wiedererkennen würde, wurde plötzlich ziemlich konkret. Warum sollte ich auch? Ich hatte kein aktuelles Foto von ihr, und die Menschen veränderten sich schließlich. Auch ich hatte mich verändert. Was waren die besonderen Kennzeichen, an die ich mich noch aus unserer Kindheit erinnern konnte? Ihre Haare, natürlich, aber was, wenn sie sie abgeschnitten hatte– oder gefärbt–, was wäre dann noch übrig? Welche Augenfarbe hatte sie? Wie groß war sie jetzt? Wie klang ihr Lachen? Ich konnte mich nicht einmal an ihr Lächeln erinnern. Als Erwachsene war sie eine Fremde für mich.
Ich war es gewohnt, auf sie zu warten.
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