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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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sich keine Sorgen zu machen brauchen. Mama hatte den Jungen einen solchen Schrecken eingejagt, daß keiner es mehr wagte, sie auch nur anzusehen. Sogar der rothaarige Junge blickte geflissentlich zur Seite. Daher vergab Vreneli ihr, und sie waren Freundinnen wie zuvor. Anna gelang es sogar, sie zu überreden, heimlich hinter dem Gasthaus das Radschlagen zu versuchen. Aber vor den Augen der anderen, auf dem Schulhof, hielten sich beide strikt ans Hüpfen.

8
    An Annas zehntem Geburtstag wurde Papa von der Zürcher Literarischen Gesellschaft zu einem Ausflug eingeladen, und als er Annas Geburtstag erwähnte, luden sie sie und Max und Mama auch ein. Mama freute sich.
    »Wie schön, daß es gerade auf deinen Geburtstag fällt«, sagte sie. »Was für eine reizende Art, einen Geburtstag zu feiern.« Anna war anderer Meinung.
    Sie sagte: »Warum kann ich nicht eine Kindergesellschaft geben, wie sonst?« Mama machte ein bestürztes Gesicht.
    »Aber es ist nicht wie sonst«, sagte sie. »Wir sind nicht zu Hause.«
    Anna wußte das natürlich, aber sie hatte das Gefühl, daß ihr Geburtstag etwas sein sollte, das ihr persönlich gehörte - nicht ein Ausflug, an dem alle anderen teilnahmen. Sie sagte aber nichts. »Sieh mal«, sagte Mama, »es wird bestimmt nett. Sie mieten einen Dampfer, nur für die Teilnehmer. Wir fahren beinahe bis zum anderen Ende des Sees und machen ein Picknick auf einer Insel und kommen erst spät nach Hause.«
    Aber Anna war nicht überzeugt.
    Sie fühlte sich auch nicht glücklicher, als der Tag gekommen war und sie ihre Geschenke betrachtete.
    Von Onkel Julius war eine Karte gekommen, Max hatte ihr Farbstifte geschenkt, Mama und Papa ein Federmäppchen und eine hölzerne Gemse. Das war alles. Die Gemse war sehr hübsch, aber als Max zehn geworden war, hatte er ein neues Fahrrad bekommen.
    Auf der Karte von Onkel Julius war ein Affe abgebildet, und Onkel Julius hatte in seiner sorgfältigen Handschrift auf die Rückseite geschrieben: »Viel Glück zum Geburtstag! Mögen ihm viele noch glücklichere folgen.«
    Anna hoffte, dieser Wunsch werde in Erfüllung gehen, denn an diesem Tag sah es tatsächlich nicht allzu rosig aus.
    »Dies ist ein komischer Geburtstag für dich«, sagte Mama, als sie Annas Gesicht sah. »Aber du bist doch allmählich zu groß, um dir viel aus Geschenken zu machen.«
    Als Max zehn wurde, hatte sie das nicht gesagt.
    »Und es ist ja auch nicht irgendein Geburtstag«, dachte Anna. Es war ihr erster zweistelliger Geburtstag.
    Im Laufe des Tages wurde sie immer unglücklicher. Der Ausflug gefiel ihr ganz und gar nicht. Das Wetter war schön, aber auf dem Dampfer wurde es sehr heiß, und die Mitglieder der Literarischen Gesellschaft redeten alle so geschwollen daher wie Fräulein Lambeck. Einer von ihnen sagte doch tatsächlich zu Papa: »Lieber Meister«. Es war ein dicker junger Mann mit einem Mund voll spitzer kleiner Zähne, und er unterbrach ein Gespräch, das Anna und Papa gerade begonnen hatten.
    »Das mit ihrem Artikel hat mir so leid getan, lieber Meister«, sagte der dicke junge Mann.
    »Mir auch«, sagte Papa. »Dies ist meine Tochter Anna, die heute zehn Jahre alt wird.«
    »Viel Glück zum Geburtstag«, sagte der junge Mann kurz und redete dann sofort weiter auf Papa ein.
    »Ich bin untröstlich, daß wir Ihren Artikel nicht haben drucken können. Noch dazu, da er so ausgezeichnete Formulierungen enthielt.« Der junge Mann hatte sie sehr bewundert. Aber der »liebe Meister« habe so entschiedene Ansichten ... die Politik des Blattes ... die Gefühle der Regierung ... der teure Meister müsse verstehen...
    »Ich verstehe vollkommen«, sagte Papa und wandte sich ab, aber der junge Mann ließ sich nicht abschütteln. Die Zeiten seien so schwierig, sagte er. Man möge sich doch vorstellen, - die Nazis hätten Papas Bücher verbrannt - das müsse doch schrecklich für Papa gewesen sein. Der junge Mann sagte, er könne das nachfühlen. Zufällig habe gerade auch er sein erstes Buch veröffentlicht, und wenn er sich vorstelle... Ob der verehrte Meister zufällig das erste Buch des jungen Mannes gelesen habe? Nein? Dann würde der junge Mann ihm davon erzählen...
    Er redete und redete, und seine kleinen Zähne klapperten, und Papa war zu höflich, um ihn zu unterbrechen. Schließlich konnte Anna es nicht mehr aushalten und ging weg.
    Auch das Picknick stellte sich als enttäuschend heraus. Es bestand hauptsächlich aus Brötchen mit Erwachsenenbelag. Die Brötchen waren nicht

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