Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
er.
Bevor Anna ein Flüchtling wurde, war sie nirgends anders hingekommen als an die See, aber sie war daran gewöhnt, daß Papa sich so in seine eigenen Gedanken verbiß, daß er ganz vergaß, zu wem er sprach. Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist eine wunderschöne Stadt«, sagte Papa. »Ich bin sicher, daß es dir gefallen wird.«
»Würden wir in eine französische Schule gehen?«
»Wahrscheinlich. Und du würdest französisch sprechen lernen. Aber vielleicht«, sagte Papa, »könnten wir auch in England leben - das ist auch sehr schön.
Bloß ein bißchen feucht.« Er betrachtete Anna nachdenklich. »Nein«, sagte er, »ich glaube, wir versuchen es zuerst in Paris.«
Die Sonne war jetzt ganz verschwunden, und es wurde dunkel. Man konnte das Wasser, durch das das Schiff seine Bahn zog, kaum noch erkennen, nur der Schaum schimmerte weiß im letzten Licht.
»Bin ich jetzt zehn?« fragte Anna. Papa schaute auf die Uhr. »Genau zehn Jahre alt.« Er drückte sie an sich.
»Viel Glück zum Geburtstag, und viele, viele glückliche Jahre.« Im gleichen Augenblick gingen auf dem Schiff die Lichter an. Um die Reling verteilt gab es nur wenige weiße Glühbirnen, so daß es auf dem Deck fast so dunkel war wie zuvor, aber die Kabinenfenster glühten plötzlich gelb auf, und am Heck des Schiffes strahlte eine purpurblaue Laterne.
»Wie schön«, rief Anna, und plötzlich war sie wegen der verpaßten Geburtstagsfeier und der fehlenden Geschenke nicht mehr traurig. Es kam ihr schön und abenteuerlich vor, ein Flüchtling zu sein, kein Zuhause zu haben und nicht zu wissen, wo sie wohnen würde. Vielleicht konnte das sogar als eine schwere Kindheit gelten, wie in Günthers Buch, und vielleicht konnte sie doch noch einmal berühmt werden.
Während das Schiff zurück nach Zürich dampfte, schmiegte sie sich an Papa, und sie beobachteten gemeinsam, wie das blaue Licht der Schiffslaterne auf dem dunklen Wasser hinter ihnen herschwamm.
»Ich glaube, es könnte mir ganz gut gefallen, ein Flüchtling zu sein«, sagte Anna.
9
Der Sommer verging, und plötzlich war das Schuljahr zu Ende. Am letzten Schultag gab es eine Feier, und Herr Graupe hielt eine Rede. Es gab eine Ausstellung der Nadelarbeiten der Mädchen, eine Turnvorführung der Jungen und viel Gesang und Gejodel von allen Beteiligten. Am Ende des Nachmittags bekam jedes Kind eine Wurst und ein Stück Brot, und sie gingen lachend und kauend heim durchs Dorf und machten Pläne für den kommenden Tag. Die Sommerferien hatten begonnen.
Max hatte erst ein paar Tage später frei. In der höheren Schule in Zürich endete das Schuljahr nicht mit Jodeln und Wurst, sondern mit Zeugnissen. Max brachte die üblichen Bemerkungen nach Hause:
»Strengt sich nicht genug an« und »Zeigt kein Interesse«, und er und Anna saßen wie auch sonst bei einem freudlosen Mittagessen, während Papa und Mama das Zeugnis lasen. Mama war besonders enttäuscht. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß Max »sich nicht anstrengte« und »kein Interesse zeigte« solange sie in Deutschland waren, aber aus irgendeinem Grund hatte sie gehofft, es würde in der Schweiz anders sein, denn Max war begabt, er arbeitete nur nicht. Aber der einzige Unterschied war der, daß Max in Deutschland die Arbeit vernachlässigt hatte, um Fußball zu spielen, in der Schweiz hatte er sie vernachlässigt, um zu angeln, und das Ergebnis war ziemlich das gleiche.
Anna fand es erstaunlich, daß er immer weiter angelte, obgleich er nie etwas fing. Sogar die Zwirnschen Kinder hatten angefangen, ihn deswegen zu necken.
»Bringst du wieder den Würmern das Schwimmen bei?« fragten sie, wenn sie an ihm vorüberkamen, und er machte dann ein wütendes Gesicht. Laut schimpfen konnte er nicht, weil er vielleicht einen Fisch vertrieben hätte, der gerade anbeißen wollte.
Wenn Max nicht fischte, schwammen er und Anna und die drei Zwirn-Kinder im See oder spielten miteinander oder gingen in den Wald. Max verstand sich gut mit Franz, und Anna hatte Vreneli ganz gern.
Trudi war erst sechs, aber sie lief immer hinterher, ganz gleich, was die anderen taten. Manchmal gesellte sich auch Rösli zu ihnen und einmal sogar der rothaarige Junge, der sowohl Anna wie Vreneli geflissentlich übersah und mit Max über Fußball redete.
Dann kamen eines Morgens Max und Anna nach unten und sahen, daß die Zwirn-Kinder mit einem Jungen und einem Mädchen spielten, die sie nie zuvor gesehen hatten. Es waren Deutsche, ungefähr in ihrem Alter, und sie
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