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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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mehr ganz frisch und hart, und Anna dachte, nur der junge Mann mit den spitzen Zähnen könnte sich da hindurchbeißen. Als Getränk gab es Ingwerbier, das Anna haßte, aber Max trank es gern. Für ihn war es überhaupt ganz schön. Er hatte seine Angelrute mitgebracht und saß ganz zufrieden am Ufer der Insel und fischte. (Nicht daß er etwas gefangen hätte - aber er benutzte Stücke der altbackenen Brötchen als Köder. Kein Wunder, daß die Fische sie auch verschmähten.) Anna wußte nicht, was sie tun sollte. Es waren keine anderen Kinder da, mit denen sie hätte spielen können, und nach dem Picknick wurde es noch schlimmer, weil da Reden gehalten wurden.
    Mama hatte ihr von den Reden nichts gesagt. Sie hätte sie warnen sollen. Sie dauerten, so kam es Anna vor, stundenlang, und Anna saß verdrossen in der Hitze und stellte sich vor, was sie jetzt tun würde, hätten sie Berlin nicht verlassen müssen.
    Heimpi hätte eine Geburtstagstorte mit Erdbeeren gemacht. Sie hätte mindestens zwanzig Kinder eingeladen, und jedes hätte ihr ein Geschenk gebracht.
    Um diese Zeit hätten sie im Garten Spiele veranstaltet.
    Danach hätte es Tee gegeben und den mit Kerzen geschmückten Kuchen ... sie konnte sich alles so genau vorstellen, daß sie kaum bemerkte, als die Reden endlich zu Ende waren.
    Mama tauchte neben ihr auf. »Wir gehen jetzt aufs Schiff zurück«, sagte sie. Dann flüsterte sie mit einem verschwörerischen Lächeln: »Die Reden waren wohl schrecklich langweilig?«
    Aber Anna lächelte nicht zurück. Mama hatte gut reden, es war ja nicht ihr Geburtstag.
    Auf dem Dampfer fand sie einen Platz an der Reling, blieb dort allein stehen und starrte ins Wasser.
    Das ist es also gewesen, dachte sie, als das Schiff zurück nach Zürich dampfte. Sie hatte ihren Geburtstag hinter sich, ihren zehnten Geburtstag, und es war auch nicht ein bißchen schön gewesen. Sie legte die Arme auf die Reling und stützte den Kopf darauf und tat so, als schaue sie sich die Gegend an. Es sollte niemand merken, wie elend ihr zumute war. Das Wasser rauschte unter ihr vorbei, der warme Wind blies ihr durchs Haar, und sie konnte nur daran denken, daß ihr der Geburtstag verdorben worden war, und daß es nie mehr gut werden würde.
    Nach einer Weile fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Es war Papa. Hatte er bemerkt, wie enttäuscht sie war? Aber Papa fiel so etwas nie auf. Er war zu sehr in seine eigenen Gedanken vertieft.
    »Ich habe also jetzt eine zehnjährige Tochter«, sagte er lächelnd. »Ja«, sagte Anna.
    »Eigentlich«, sagte Papa, »bist du noch gar nicht ganz zehn Jahre alt. Du bist um sechs Uhr abends geboren. Bis dahin sind noch zwanzig Minuten.«
    »Wirklich?« sagte Anna. Aus irgendeinem Grund tröstete sie der Gedanke, daß sie noch nicht ganz zehn Jahre alt war.
    »Ja«, sagte Papa, »und mir scheint es noch gar nicht so lange her. Natürlich wußten wir damals noch nicht, daß wir deinen zehnten Geburtstag als Flüchtlinge vor Hitler auf dem Zürcher See verbringen würden.«
    »Ist ein Flüchtling jemand, der von zu Hause hat weggehen müssen?« fragte Anna.
    »Jemand, der in einem anderen Land Zuflucht sucht«, sagte Papa.
    »Ich glaube, ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt, daß ich ein Flüchtling bin«, sagte Anna.
    »Es ist ein seltsames Gefühl«, sagte Papa. »Man wohnt sein ganzes Leben lang in einem Land. Dann wird es plötzlich von Räubern übernommen, und man findet sich allein, an einem fremden Ort, mit nichts.«
    Als er dies sagte, machte er ein so fröhliches Gesicht, daß Anna fragte: »Macht es dir denn nichts aus?«
    »Doch«, sagte Papa. »Aber ich finde es auch sehr interessant.« Die Sonne verschwand hinter einem Berggipfel, und dann wurde der See dunkler, und alles auf dem Schiff wurde grau und flach. Dann erschien sie wieder in einer Senke zwischen zwei Bergen, und die Welt wurde wieder rosig und golden.
    »Wo werden wir wohl an deinem elften Geburtstag sein?« sagte Papa, »und an deinem zwölften?«
    »Werden wir denn nicht hier sein?«
    »Nein, das glaube ich nicht«, sagte Papa. »Wenn die Schweizer nichts von dem, was ich schreibe, drucken wollen, weil sie Angst haben, die Nazis jenseits der Grenze zu verärgern, dann können wir genauso gut in einem ganz anderen Land leben.
    Wohin möchtest du denn gern gehen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Anna.
    »Ich glaube, Frankreich wäre schön«, sagte Papa.
    Er dachte eine Weile darüber nach. »Kennst du Paris überhaupt?« fragte

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