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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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sagte Papa, »aber ich glaube, es lohnt sich, denn die Juden sind ein wunderbares Volk, und es ist wunderbar, ein Jude zu sein. Und wenn Mama und ich zurückkommen, so bin ich sicher, wir werden stolz darauf sein können, wie ihr uns in der Schweiz vertreten habt.«
    »Es ist sonderbar«, dachte Anna, »sonst finde ich es gräßlich, wenn ich besonders artig sein soll, aber diesmal macht es mir gar nichts aus.« Sie hatte früher nicht gewußt, daß es so wichtig war, ein Jude zu sein.
    Im Geheimen beschloß sie, sich wirklich jeden Tag den Hals mit Seife zu waschen, solange Mama weg war, dann konnten die Nazis wenigstens nicht sagen, die Juden hätten dreckige Hälse.
    Als aber Mama und Papa wirklich abfuhren, kam sie sich gar nicht mehr wichtig vor - nur sehr klein und verloren. Es gelang ihr, die Tränen zurückzuhalten, während sie dem Zug nachsah, der aus der Station des Dorfes ausfuhr, aber als sie und Max langsam zum Gasthaus zurückgingen, fühlte sie ganz deutlich, daß sie noch zu klein war, um in einem Land allein zu bleiben, während ihre Eltern in ein anderes fuhren.
    »Los, kleiner Mann«, sagte Max plötzlich, »mach nicht so’n Gesicht!« Es war so komisch, als »kleiner Mann« angeredet zu werden, was sonst immer nur Max passierte, daß sie lachen mußte.
    Danach ging alles besser. Frau Zwirn hatte ihr Lieblingsgericht gekocht, und es hatte etwas Großartiges, allein mit Max an einem Tisch im Speisesaal zu essen. Dann kam Vreneli, um sie zum Nachmittagsunterricht abzuholen, und nach der Schule spielten sie wie sonst auch mit den Zwirn-Kindern. Das Zubettgehen, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte, war sogar sehr nett, weil Herr Zwirn hereinkam und ihnen über einige der Gäste in der Wirtschaft komische Geschichten erzählte. Am nächsten Tag waren sie und Max imstande, eine ganz muntere Postkarte an Papa und Mama zu schreiben und am folgenden Morgen kam eine aus Paris für sie an.
    Danach ging das Leben ganz munter seinen Gang.
    Die Postkarten waren eine große Hilfe. Jeden Tag schrieben sie entweder an Papa und Mama oder sie hörten von ihnen, und das gab ihnen das Gefühl, daß die Eltern gar nicht so weit entfernt waren. Am Sonntag gingen sie mit den drei Zwirn-Kindern, um Eßkastanien zu sammeln. Sie brachten ganze Körbe nach Hause, und Frau Zwirn röstete sie im Backofen.
    Dann aßen sie alle zusammen Kastanien dick mit Butter bestrichen in der Küche zum Abendbrot. Sie schmeckten köstlich.
    Am Ende der zweiten Woche nach Mamas und Papas Abreise machte Herr Graupe mit Annas Klasse einen Ausflug. Sie verbrachten eine Nacht hoch oben in den Bergen in einer Holzhütte auf Stroh, und am Morgen weckte Herr Graupe sie vor Tagesanbruch. Er führte sie auf einem schmalen Pfad den Berg hinauf, und plötzlich spürte Anna, daß der Boden unter ihren Füßen kalt und feucht wurde. Es war Schnee.
    »Vreneli, sieh mal«, rief sie, und während sie auf den Schnee blickten, der in der Dunkelheit matt grau gewesen war, wurde dieser plötzlich immer heller und ganz rosig. Es ging ganz schnell, und bald hüllte ein rosiger Glanz den ganzen Berg ein. Anna sah Vreneli an. Ihr blauer Pullover war violett, ihr Gesicht war scharlachrot, und sogar die mausfarbenen Zöpfchen glühten orangefarben. Auch die anderen Kinder waren verwandelt. Sogar Herrn Graupes Bart war rosig. Und hinter ihnen erstreckte sich eine weite leere Fläche von rosa Schnee und einem etwas blaß rosigem Himmel. Allmählich wurde das Rosa ein bißchen blasser, und das Licht wurde strahlender, die rosa Welt hinter Vreneli und den anderen teilte sich in blauen Himmel und blendend weißen Schnee, und nun war heller Tag.
    »Ihr habt jetzt den Sonnenaufgang in den Schweizer Bergen gesehen - das Schönste, was man in der Welt sehen kann«, sagte Herr Graupe, als habe er persönlich dieses Schauspiel hervorgebracht. Dann marschierten sie alle wieder bergab.
    Es war ein langer Marsch, und Anna war müde, lange bevor sie unten ankamen. Im Zug döste sie und wünschte, Mama und Papa wären nicht in Paris, und sie könnte ihnen sofort von ihrem Abenteuer berichten. Aber vielleicht würden sie bald schreiben, wann sie zurückkamen. Mama hatte versprochen, daß sie nicht länger als drei Wochen bleiben würden, und es war schon über zwei Wochen.
    Sie kamen erst am Abend zum Gasthaus zurück.
    Max hatte mit der fälligen Postkarte gewartet, und Anna kritzelte trotz ihrer Müdigkeit noch ein paar Zeilen an die Eltern. Dann ging sie, obgleich es

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