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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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französischen Erzieherin Französisch gelernt hatte, hatte Mama von ihrer englischen Erzieherin Englisch gelernt. Die englische Erzieherin war so nett gewesen, daß Mama sich immer gewünscht hatte, das Land kennenzulernen, aus dem sie kam.
    »Wir werden noch darüber reden«, sagte Papa.
    Dann erzählte er ihnen von den Leuten, die er getroffen hatte - alte Freunde aus Berlin, die bekannte Schriftsteller gewesen waren, Schauspieler oder Wissenschaftler, die nun mühsam versuchten, ihren Lebensunterhalt in Paris zu verdienen.
    »Eines Morgens lief ich diesem Schauspieler in die Arme - du erinnerst dich doch an Blumenthal?« sagte Papa, und Mama wußte sofort, was er meinte. »Er hat eine Konditorei eröffnet. Seine Frau bäckt die Kuchen, und er steht hinter dem Ladentisch. Ich begegnete ihm, als er gerade einen Apfelstrudel zu einem Stammkunden brachte.« Papa lächelte. »Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er Ehrengast bei einem Bankett der Berliner Oper.«
    Er hatte auch einen französischen Journalisten und dessen Frau getroffen, die ihn einige Male zu sich nach Hause eingeladen hatten.
    »Es sind entzückende Menschen«, sagte Papa, »und sie haben eine Tochter in Annas Alter. Wenn wir nach Paris ziehen, bin ich sicher, daß sie euch sehr gefallen werden.«
    »Ja«, sagte Mama, aber es klang nicht überzeugt.
    Während der nächsten Wochen sprachen Papa und Mama über Paris. Papa glaubte, er werde dort arbeiten können und meinte, es sei eine wunderbare Stadt, um dort zu leben. Mama, die Paris kaum kannte, hatte allerhand praktische Bedenken, zum Beispiel die Erziehung der Kinder, und ob sie eine Wohnung finden würden. Papa hatte daran nicht gedacht. Aber schließlich kamen sie überein, daß sie mit Papa nach Paris fahren und sich selber alles ansehen solle. Es war schließlich eine wichtige Entscheidung.
    »Und was ist mit uns?« fragte Max.
    Er und Anna saßen im Zimmer ihrer Eltern auf dem Bett, wohin man sie zur Besprechung geholt hatte.
    Mama besetzte den einzigen Stuhl, und Papa hockte wie ein ganz eleganter Zwerg auf einem hochkam gestellten Koffer. Es war ein bißchen eng, aber man war hier unter sich.
    »Ich glaube, ihr seid alt genug, euch ein paar Wochen allein zu versorgen«, sagte Mama.
    »Sollen wir etwa allein hier bleiben?« fragte Anna.
    Es war ein ungewohnter Gedanke.
    »Warum nicht?« sagte Mama. »Frau Zwirn wird sich um euch kümmern - sie wird dafür sorgen, daß euer Zeug sauber ist und ihr zur rechten Zeit zu Bett geht. Mit allem anderen könnt ihr wohl selbst zurechtkommen.«
    Es war also beschlossen. Anna und Max sollten ihren Eltern alle zwei Tage eine Postkarte schreiben, damit diese wußten, daß alles in Ordnung war, und Papa und Mama würden das gleiche tun. Mama bat sie, nicht zu vergessen, daß sie sich den Hals waschen und reine Socken anziehen mußten. Papa hatte ihnen etwas Ernsteres zu sagen.
    »Denkt daran: Wenn Mama und ich in Paris sind, seid ihr die einzigen Vertreter unserer Familie in der Schweiz«, sagte er. »Das ist eine große Verantwortung.«
    »Warum?« fragte Anna, »was müssen wir tun?«
    Sie war einmal mit Onkel Julius im Berliner Zoo gewesen und hatte dort ein kleines mäuseähnliches Tier gesehen, an dessen Käfig sich eine Notiz befand, die besagte, daß es der einzige Vertreter seiner Art in Deutschland sei. Sie hoffte nur, daß niemand kam, um sie und Max anzustarren.
    Aber das hatte Papa gar nicht gemeint.
    »Die Juden sind über die ganze Welt verstreut«, sagte er, »und die Nazis erzählen schreckliche Lügen über sie. Es ist daher für Menschen wie uns sehr wichtig, zu beweisen, daß sie unrecht haben.«
    »Wie können wir das denn?« fragte Max.
    »Wir müssen besser sein als andere Menschen«, sagte Papa. »Zum Beispiel sagen die Nazis, die Juden wären unehrlich. Es genügt also nicht, daß wir genauso ehrlich sind wie andere Leute. Wir müssen ehrlicher sein.«
    Anna bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil ihr das letzte Mal einfiel, wo sie in Berlin einen Bleistift gekauft hatte. Der Mann im Schreibwarengeschäft hatte ihr zu wenig berechnet, und Anna hatte ihn nicht auf das Versehen aufmerksam gemacht.
    Wenn nun die Nazis davon gehört hatten?
    »Wir müssen fleißiger sein als andere Leute«, sagte Papa, »um zu beweisen, daß wir nicht faul sind, großzügiger, um zu beweisen, daß wir nicht geizig sind, höflicher, um zu beweisen, daß wir nicht unhöflich sind.« Max nickte.
    »Vielleicht scheint es euch viel verlangt«,

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