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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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sehr erfreut. »Es sind so nette Menschen«, sagte sie, »und es wäre schön, in Paris Freunde zu haben.«
    Sie beendeten ihre Einkäufe und brachten alles nach Hause. Anna sagte »Bonjour Madame« zur Concierge und hoffte, sie würde ihren perfekten französischen Akzent bemerken und plauderte im Lift fröhlich mit Mama. Aber als sie die Wohnung betraten, fiel ihr ein, daß Max in der Schule war, und alles war plötzlich wieder grau. Sie half Mama, die Waren auszupacken, aber danach wußte sie nicht, was sie tun sollte.
    Grete wusch im Badezimmer ein paar Sachen aus, und einen Augenblick lang dachte Anna daran, zu ihr zu gehen und mit ihr zu plaudern. Aber seit sie in Österreich in Ferien gewesen war, war Grete knurriger denn je. Sie fand alles in Frankreich gräßlich. Die Sprache sei unmöglich, die Leute wären schmutzig, das Essen sei zu schwer - nichts paßte ihr. Während sie zu Hause war, hatte sie ihrer Mutter noch weitere Versprechungen machen müssen. Außer daß sie immer genug Schlaf haben mußte, hatte Grete ihrer Mutter versprochen, ihren Rücken zu schonen, was bedeutete, daß sie die Böden nur sehr langsam putzen konnte. Und in den Ecken putzte sie überhaupt nicht, weil sie ihre Handgelenke nicht überanstrengen durfte. Sie hatte auch versprochen, gut zu Mittag zu essen, sich auszuruhen, wenn sie müde war und sich nicht zu erkälten.
    Grete war sehr darauf bedacht, alle diese Versprechen zu halten, die immer wieder durch die Ansprüche Mamas und der anderen Familienmitglieder gefährdet wurden, und sie tauchten in ihrer Unterhaltung mindestens so oft auf wie ihre Mißbilligung der Franzosen.
    Anna hatte das Gefühl, sie in diesem Augenblick nicht ertragen zu können, sie schlenderte also zurück zu Mama in die Küche und sagte: »Was soll ich tun?«
    »Du könntest etwas französisch lesen«, sagte Mama.
    Mademoiselle hatte ein Geschichtenbuch für Anna dagelassen, und sie setzte sich damit an den Eßzimmertisch und gab sich damit ab. Aber es war für Kinder bestimmt, die viel jünger waren als sie, und es war traurig, dazusitzen und sich mit dem Wörterbuch abzumühen, nur um zu entdecken, daß Pierre mit einem Stock nach seiner Schwester geworfen und daß ihn seine Mutter einen unartigen Jungen genannt hatte.
    Das Mittagessen war eine Erlösung, und Anna half den Tisch decken und nachher wieder abtragen. Dann malte sie ein bißchen, aber die Zeit verging furchtbar langsam, bis schließlich, lange nach fünf Uhr, die Schelle klingelte und Maxens Rückkehr ankündigte.
    Anna stürzte zur Tür, um ihn einzulassen und fand Mama schon dort.
    »Nun, wie war es?« rief Mama.
    »Ganz gut«, sagte Max, aber er sah blaß und müde aus.
    »Ist es nicht schön?« fragte Anna.
    »Wie soll ich das wissen?« fragte Max böse, »ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagen.«
    Er war für den Rest des Abends schweigsam und mürrisch. Erst nach dem Essen sagte er zu Mama:
    »Ich muß eine richtige französische Mappe haben,«
    Er versetzte dem deutschen Ranzen einen Tritt, den er sonst auf dem Rücken trug. »Wenn ich weiter damit herumlaufe, dann sehe ich auch noch anders aus als alle anderen.«
    Anna wußte, daß Schulmappen teuer waren, und unwillkürlich sagte sie: »Aber deinen Ranzen hast du erst voriges Jahr bekommen.«
    »Was geht das dich an«, schrie Max, »du verstehst doch gar nichts davon, du sitzt den ganzen Tag zu Hause.«
    »Es ist nicht meine Schuld, daß ich nicht in die Schule gehe«, schrie Anna zurück, »es ist, weil Mama keine Schule findet, in die ich gehen kann.«
    »Dann halt den Mund, bis du gehst«, schrie Max, und danach sprachen sie überhaupt nicht mehr miteinander, obgleich Mama zu Annas Überraschung versprach, für Max eine Mappe zu kaufen.
    Anna fand es scheußlich. Sie hatte sich den ganzen Tag darauf gefreut, daß Max nach Hause käme, und jetzt hatten sie sich gezankt. Sie nahm sich vor, daß der nächste Tag anders sein sollte, aber er verlief sehr ähnlich. Max kam so müde und gereizt nach Hause, daß sie sich bald wieder zankten.
    Dann wurde es noch schlimmer, denn es wurde regnerisch, und Anna erkältete sich und konnte nicht ausgehen. Sie fühlte sich, da sie tagelang in der engen Etage verbringen mußte, wie gefangen, und abends waren sie und Max beide so schlecht gelaunt, daß sie kaum ein vernünftiges Wort miteinander reden konnten. Max kam es ungerecht vor, daß er sich durch die langen schwierigen Schultage hindurchkämpfen mußte, während Anna zu Hause

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