Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Mädchen - alle außer Anna - begannen wieder im Chor zu rezitieren.
Anna saß da und ließ die Stimmen über sich hinwegdröhnen. Sie hätte gern gewußt, was sie da aufsagten. Es war komisch, in einer Schule zu sitzen und Unterricht zu haben, ohne zu verstehen, um was es sich handelte. Während sie horchte, erkannte sie in dem Dröhnen einige Zahlwörter. War es das Einmaleins? Nein, dazu waren es bei weitem nicht genug Zahlen. Sie schaute auf das Buch auf Colettes Pult.
Auf dem Umschlag war das Bild eines Königs mit einer Krone auf dem Kopf. Da verstand sie, genau in dem Augenblick, als Madame Socrate mit einem Händeklatschen befahl, daß die Schülerinnen aufhören sollten: Es war Geschichte! Die Zahlen waren Daten, und sie war gerade zur Geschichtsstunde gekommen. Aus irgendeinem Grunde machte diese Entdeckung sie sehr froh.
Die Mädchen nahmen jetzt Hefte heraus, und Anna bekam ein ganz neues. In der nächsten Stunde schrieben sie ein Diktat. Anna verstand das Wort, weil Mademoiselle Martel ihr und Max manchmal ein paar einfache Wörter diktiert hatte. Aber dies war etwas anderes. Die Sätze waren lang, und Anna hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Sie wußte nicht, wo der eine Satz aufhörte und der nächste anfing. Es schien hoffnungslos, sich darauf einzulassen, aber dazusitzen und überhaupt nichts zu schreiben, sah gewiß noch schlechter aus. Sie tat also ihr bestes, die unverständlichen Laute in Buchstaben zu übertragen und sie in mögliche Gruppen einzuteilen. Als sie ungefähr eine Seite auf diese seltsame Weise vollgeschrieben hatte, war das Diktat zu Ende, die Hefte wurden eingesammelt, es schellte, und es war Pause.
Anna zog den Mantel an und folgte Colette auf den Schulhof - ein gepflastertes, von einem Eisengitter eingefaßtes Viereck, das sich schon mit anderen Mädchen füllte. Es war kalt, und sie rannten und hüpften umher, um sich warm zu halten. Sobald Anna mit Colette auftauchte, scharten sich einige Mädchen um sie und Colette stellte sie vor. Da war Claudine, Marcelle, Micheline, Francoise, Madeleine ... es war unmöglich, alle diese Namen zu behalten, aber alle lächelten und streckten Anna ihre Hand hin, und sie war für diese Freundlichkeit sehr dankbar. Dann spielten sie ein Singspiel. Sie hängten sich einer beim andern ein und sangen und hüpften im Takt der Melodie vorwärts, rück- und seitwärts. Es sah zuerst ganz harmlos aus, aber im Verlauf des Spiels ging es immer schneller und schneller, bis schließlich ein solches Durcheinander entstand, daß alle lachend und außer Atem auf einen Haufen zusammenstürzten.
Beim ersten Mal stand Anna dabei und schaute zu, aber beim zweiten Mal nahm Colette sie bei der Hand und stellte sie ans Ende der Kette. Sie schob ihren Arm in den Francoises - oder vielleicht war es auch Micheline - und tat ihr bestes, dem Schrittwechsel zu folgen. Wenn sie es falsch machte, lachten alle, aber auf eine freundliche Weise. Wenn sie es richtig machte, waren alle entzückt. Sie wurden ganz heiß und aufgeregt, und wegen Annas vieler Fehler endete das Ganze in einem noch größeren Durcheinander.
Colette lachte so sehr, daß sie sich hinsetzen mußte, und auch Anna lachte. Sie merkte plötzlich, wie lange sie schon nicht mehr mit anderen Kindern gespielt hatte. Es war herrlich, wieder in die Schule zu gehen.
Am Ende der Pause konnte sie sogar die Worte des Liedes singen, obgleich sie keine Ahnung hatte, was sie bedeuteten.
Als sie wieder ins Klassenzimmer kamen, hatte Madame Socrate Rechenaufgaben an die Tafel geschrieben und Anna faßte Mut. Um sie lösen zu können, mußte man kein Französisch verstehen. Sie arbeitete daran, bis es schellte, und damit war der Morgenunterricht beendet.
Das zweite Frühstück wurde in einer kleinen warmen Küche unter Aufsicht einer großen dicken Frau namens Clothilde eingenommen. Fast alle Kinder wohnten nahe genug, um zum Essen nach Hause zu gehen, und außer Anna blieben nur noch ein viel jüngeres Mädchen und ein kleiner Junge von etwa drei Jahren da, der zu Clothilde zu gehören schien.
Anna aß ihre Butterbrote, aber das andere Mädchen hatte Fleisch, Gemüse und einen Pudding, und Clothilde wärmte alle diese Speisen sehr bereitwillig auf ihrem Herd auf. Sie sahen viel appetitlicher aus als Annas Butterbrote, und das schien Clothilde auch zu finden. Sie betrachtete die Butterbrote mit einer Grimasse, als wären sie Gift und rief: »Nicht gut, nicht gut!« und suchte Anna mit Gesten verständlich zu
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