Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
machen, daß sie das nächste Mal auch ein richtiges Mittagessen mitbringen solle.
»Oui«, sagte Anna und wagte sich sogar an ein »demain«, was »morgen« bedeutete, und Clothilde mit ihrem dicken Gesicht nickte strahlend.
Als sie ans Ende dieses Meinungsaustauschs gekommen waren, der einige Zeit in Anspruch genommen hatte, ging die Tür auf und Madame Socrate kam herein.
»Ah«, sagte sie in ihrer langsamen, deutlichen Aussprache, »du sprichst Französisch. Das ist gut.«
Clothildes kleiner Junge lief zu ihr hin. »Ich kann Französisch!« rief er.
»Ja, aber du kannst nicht Deutsch«, sagte Madame Socrate und kitzelte ihn am Bauch, daß er vor Vergnügen quiekte.
Dann winkte sie Anna, ihr zu folgen. Sie gingen ins Klassenzimmer zurück und Madame Socrate setzte sich mit Anna ans Pult. Sie legte die Arbeiten vom Vormittag vor sie hin und deutete auf die Rechenaufgaben.
»Sehr gut«, sagte sie. Anna hatte fast alles richtig.
Dann wies Madame Socrate auf das Diktat, »Sehr schlecht«, sagte sie, aber sie machte dabei eine so drollige Grimasse, daß Anna nicht traurig war. Anna schaute in ihr Heft. Das Diktat war unter einem See von roter Tinte verschwunden. Beinahe jedes Wort war falsch. Madame Socrate hatte das ganze Stück noch einmal abschreiben müssen. Unter der Seite stand in roter Tinte »142 Fehler«, und Madame Socrate wies auf diese Zahl und machte dazu ein überraschtes und beeindrucktes Gesicht, als ob dies ein Rekord wäre. Dann lächelte sie, klopfte Anna auf den Rücken und bat sie, die korrigierte Abschrift noch einmal abzuschreiben. Anna tat das mit großer Sorgfalt, und obgleich sie immer noch sehr wenig von dem, was sie schrieb, verstand, war es doch schön, etwas im Heft zu haben, das nicht ganz durchgestrichen war.
Am Nachmittag hatten sie Zeichnen, und Anna malte eine Katze, die sehr bewundert wurde. Sie schenkte sie Colette, weil das Mädchen so lieb zu ihr gewesen war, und Colette erklärte in ihrem üblichen Gemisch aus schnellem Französisch und Zeichensprache, daß sie das Bild in ihrem Schlafzimmer an die Wand heften werde.
Als Mama sie um vier Uhr abholen kam, war Anna in bester Stimmung.
»Wie war es in der Schule?« fragte Mama.
»Schön«, sagte Anna. Erst als sie zu Hause ankamen, merkte sie, wie müde sie war, aber an diesem Abend bekamen sie und Max zum erstenmal seit Wochen keinen Krach. Sie war noch müde, als sie am folgenden Tag zur Schule ging und auch am Tag danach - aber dann war Donnerstag. An diesem Wochentag haben alle Kinder in Frankreich schulfrei.
»Was sollen wir tun?« fragte Max.
»Wir wollen unser Taschengeld nehmen und zum Prisunic gehen«, sagte Anna. Das Prisunic war ein Kaufhaus, das sie und Mama bei einem ihrer Einkaufsausflüge entdeckt hatten. Dort war alles sehr billig. Es gab keine Ware, die mehr als zehn Franken kostete. Das Warenhaus führte Spielzeug, Haushaltsartikel, Schreibwaren und auch Kleider.
Anna und Max verbrachten eine glückliche Stunde damit, festzustellen, welche Waren sie sich leisten konnten. Sie hätten ihr Taschengeld für ein Stück Seife oder ein halbes Paar Socken anlegen können, aber schließlich kamen sie mit zwei Kreiseln heraus.
Am Nachmittag spielten sie mit den Kreiseln auf einem kleinen Platz in der Nähe des Hauses, bis es dunkel wurde.
»Gefällt es dir in deiner Schule?« fragte Max plötzlich auf dem Heimweg.
»Ja«, sagte Anna, »alle sind sehr nett, und es ist ihnen egal, wenn ich nicht alles verstehe. Warum?
Gefällt es dir in deiner Schule nicht?«
»O doch«, sagte Max, »sie sind auch nett zu mir, und ich fange an, Französisch zu verstehen.«
Sie gingen schweigend eine Weile nebeneinander her, dann platzte Max heraus: »Aber eins ist einfach schrecklich für mich!«
»Was?« fragte Anna.
»Macht es dir denn nichts aus?« fragte Max, »ich meine - so anders zu sein als alle anderen?«
»Nein«, sagte Anna. Dann betrachtete sie Max. Er trug eine Hose, aus der er herausgewachsen war und die er an den Beinen noch umgeschlagen hatte, damit sie noch kürzer aussah. Seinen Schal hatte er elegant in den Jackenausschnitt hineingestopft, und das Haar war auf eine ihr unbekannte Weise zurückgebürstet.
»Du siehst genau aus wie ein französischer Junge«, sagte Anna. Max’ Gesicht erhellte sich für einen Augenblick.
Dann sagte er: »Aber ich spreche nicht so.«
»Nach so kurzer Zeit ist das ja auch nicht gut möglich«, sagte Anna. »Ich glaube früher oder später lernen wir beide richtig
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