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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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Allee mit glitzernden Läden und Cafes, und es war überraschend, hinter dieser Pracht das altmodische Tor verborgen zu finden, das die Aufschrift trug: »Ecole de filles«. Das Gebäude war dunkel und stand offenbar schon lange dort. Sie gingen über den leeren Hof und hörten aus einer der Klassen Gesang. Die Schule hatte schon angefangen.
    Während Anna neben Mama die Steintreppe hinaufstieg, um der Schulvorsteherin vorgestellt zu werden, war sie sehr gespannt, was sie erleben würden.
    Die Schulvorsteherin war groß und munter. Sie gab Anna die Hand und erklärte Mama etwas auf Französisch, das Mama übersetzte. Es tue ihr leid, daß niemand in der Schule Deutsch verstehe. Sie hoffe aber, daß Anna bald Französisch lernen werde. Dann sagte Mama: »Ich hole dich um vier Uhr ab.« Anna hörte ihre Absätze die Stufen hinunterklappern, während sie im Büro der Schulvorsteherin zurückblieb.
    Die Vorsteherin lächelte Anna an. Anna lächelte zurück. Aber es ist so ein seltsames Gefühl, jemandem zuzulächeln, ohne zu sprechen, und nach einer Weile fühlte sie, wie ihr Gesicht starr wurde. Auch die Vorsteherin mußte ähnliches spüren, denn plötzlich knipste sie ihr Lächeln aus. Ihre Finger trommelten auf dem Pult und sie schien auf etwas zu warten, aber nichts geschah. Anna fragte sich schon, ob sie wohl den ganzen Tag da stehenbleiben würde, als es an die Tür klopfte.
    Die Vorsteherin rief: »Entrez!« und ein kleines dunkelhaariges Mädchen in Annas Alter tauchte auf.
    Die Vorsteherin rief etwas, von dem Anna vermutete, daß es »endlich« hieß und begann eine lange ärgerliche Rede. Dann wandte sie sich an Anna und sagte, der Name des anderen Mädchens sei Colette und noch etwas, das wohl heißen mochte, Colette werde sich um sie kümmern. Colette ging auf die Tür zu. Anna, die nicht wußte, ob sie ihr folgen sollte, blieb stehen.
    »Allez, allez!« rief die Schulvorsteherin und winkte mit der Hand, als wollte sie eine Fliege wegscheuchen, und Colette nahm Annas Hand und führte sie aus dem Zimmer.
    Sobald sich die Tür geschlossen hatte, zog Colette eine Grimasse und sagte »Ouf!« Anna war froh, daß auch ihr die Vorsteherin auf die Nerven gefallen war.
    Sie hoffte, daß nicht alle Lehrer so sein würden. Dann folgte sie Colette durch einen langen Flur und durch mehrere Türen. Sie konnte aus einem der Klassenzimmer das Gemurmel französischer Stimmen hören.
    In den anderen war es still. Wahrscheinlich schrieben die Kinder oder sie rechneten. Sie kamen zu einer Garderobe, und Colette zeigte ihr, wo sie den Mantel aufhängen sollte, bewunderte den deutschen Ranzen und wies darauf hin, daß Annas Kittelschürze genauso war wie ihre eigene - das alles in schnellem Französisch und durch Zeichen. Anna konnte keins der Wörter verstehen, aber sie erriet, was Colette meinte.
    Dann führte Colette sie wieder durch eine Tür, und jetzt befand sich Anna in einem großen Raum, der mit Pulten vollgestopft war. Es mußten wenigstens vierzig Mädchen sein. Sie trugen alle schwarze Kittelschürzen, und dies, verbunden mit dem dämmrigen Licht in der Klasse, gab dem Ganzen etwas von einer Trauerszene.
    Die Mädchen hatten etwas im Chor aufgesagt, aber als Anna mit Colette eintrat, unterbrachen sie sich und starrten sie an. Anna starrte zurück, und sie fing an, sich recht klein zu fühlen, und es stiegen plötzlich heftige Zweifel in ihr auf, ob es ihr in dieser Schule gefallen würde. Sie klammerte sich an ihren Ranzen und ihre Frühstücksdose und versuchte so zu tun, als ob ihr alles gleichgültig wäre.
    Dann fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ein leichter Duft von Parfüm mit einem Hauch von Knoblauch vermischt wehte sie an und sie blickte in ein sehr freundliches runzliges Gesicht, das von fusseligem schwarzem Haar umrahmt war.
    »Bonjour, Anna«, sagte die Frau, die vor ihr stand langsam und deutlich, so daß Anna es verstehen konnte. »Ich bin deine Lehrerin. Ich heiße Madame Socrate.«
    »Bonjour, Madame«, sagte Anna leise.
    »Sehr gut!« rief Madame Socrate. Dann schwenkte sie die Hand gegen die Pultreihen und fügte langsam und klar wie vorher hinzu: »Diese Mädchen sind in deiner Klasse«, und noch etwas über »Freunde«.
    Anna blickte von Madame Socrate fort und riskierte einen schnellen Blick zur Seite. Die Mädchen starrten nicht mehr, sondern lächelten und sie fühlte sich viel wohler. Dann brachte Colette sie zu einem Platz neben ihrem eigenen, Madame Socrate sagte etwas, und die

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