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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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waren überall, sie bewegten sich wie in Wellen an beiden Seiten seines langen Körpers.
    »Eins, zwei, drei...« Anna begann hastig, aber es war hoffnungslos. Pumpel kam immer näher, und jetzt konnte sie schon seine scheußlichen spitzen Zähne sehen.
    Sie mußte einfach raten.
    »Siebenundneunzig«, rief sie, aber Pumpel kam immer noch näher, und plötzlich wurde ihr klar, daß sie in Paris waren, und daß er erwartete, daß sie auf Französisch zähle. Wie hieß siebenundneunzig auf Französisch? Sie konnte vor Angst keinen Gedanken fassen.
    »Quatre-vingts...«, stammelte sie. Pumpel hatte sie beinahe schon erreicht... »Quatre vingts-dix-sept!« schrie sie triumphierend und fand sich aufrecht im Bett sitzen.
    Alles war still, und sie konnte Max auf der anderen Zimmerseite friedlich atmen hören. Ihr Herz hämmerte, und die Brust war ihr so eng, daß sie sich kaum bewegen konnte. Aber es war alles in Ordnung. Sie war in Sicherheit. Es war nur ein Traum gewesen. Auf der anderen Hofseite hatte jemand noch das Licht an, es warf ein blaßgoldenes Viereck auf den Vorhang.
    Sie konnte die verschwommenen Umrisse ihrer Kleider, die auf dem Stuhl für den Morgen bereit lagen, erkennen. Aus Papas Zimmer kam kein Laut.
    Sie lag da und genoß die schöne Vertrautheit aller Dinge, bis sie sich ruhig und schläfrig fühlte. Und dann fiel es ihr plötzlich ein, und ein Gefühl des Triumphes stieg in ihr auf. Sie hatte einen Alptraum gehabt! Sie hatte einen Alptraum gehabt und Papa keinen! Vielleicht war sie wirklich erhört worden. Sie schmiegte sich glücklich zurecht, und dann war es plötzlich Morgen, und Max stand da und zog sich an.
    »Hast du vorige Nacht wieder schlecht geträumt?« fragte sie Papa beim Frühstück.
    »Überhaupt nicht«, sagte Papa, »ich glaube, ich bin darüber hinweg.«
    Anna sagte es niemandem, aber sie hatte immer das Gefühl, daß sie es gewesen sei, die Papa von seinen Alpträumen geheilt hatte, Eines Abends, ein paar Tage danach, hatten Max und Anna einen schlimmeren Krach als je zuvor. Max war nach Hause gekommen und hatte Annas Zeichensachen über dem Eßtisch zerstreut gefunden, und es war kein Platz für seine Schularbeiten. »Räum mir diesen Dreck aus dem Weg!« schrie er, und Anna schrie zurück: »Es ist kein Dreck! Du denkst, nur weil du zur Schule gehen mußt, bist du die einzig wichtige Person hier im Haus!«
    Mama sprach am Telefon und rief ihnen durch die Tür zu, sie sollen still sein.
    »Jedenfalls bin ich viel wichtiger als du«, zischte Max wütend. »Du sitzt den ganzen Tag herum und tust nichts.«
    »Das stimmt nicht«, flüsterte Anna. »Ich zeichne und decke den Tisch.«
    »Ich zeichne und decke den Tisch«, äffte Max auf eine besonders eklige Weise nach. »Du bist nichts als ein Parasit!«
    Dies war zuviel für Anna. Sie wußte nicht genau, was ein Parasit war, hatte aber den unbestimmten Eindruck, daß es etwas Scheußliches sein mußte, das auf Bäumen wuchs. Als Mama den Hörer auflegte, brach sie in Tränen aus.
    Mama hatte wie gewöhnlich den Streit schnell geschlichtet. Max sollte Anna keine Schimpfnamen geben, auf jeden Fall sei es unsinnig, sie einen Parasiten zu nennen, und Anna sollte ihre Sachen wegräumen und Platz machen, damit Max seine Hausaufgaben machen könne, sagte Mama.
    Dann fügte sie hinzu: »Wenn Max dich nur darum einen Parasiten genannt hat, weil du nicht zur Schule gehst - das wird sich bald ändern.«
    Anna hörte sofort auf, ihre Farbstifte in die Schachtel einzuordnen.
    »Warum?« fragte sie.
    »Das war eben Madame Fernand am Telefon«, sagte Mama. »Sie sagte, daß sie von einer sehr guten kleinen ecole communale gehört hat, die nicht allzuweit von hier entfernt ist. Wenn wir Glück haben, kannst du nächste Woche dort anfangen.«

15
    Am nächsten Montag machte sich Anna mit Mama auf den Weg zur ecole communale. Anna trug ihren Schulranzen und eine Pappschachtel, die ihre Frühstücksbrote enthielten. Unter dem Wintermantel trug sie einen schwarzen Kittel mit Falten, den Mama ihr auf den Rat der Schulvorsteherin gekauft hatte. Sie war sehr stolz auf diese Kittelschürze und froh, daß der Mantel sie nicht ganz bedeckte, so daß jedermann sie sehen konnte.
    Sie fuhren mit der Metro, aber obgleich es nicht weit war, mußten sie zweimal umsteigen. »Ich glaube, das nächste Mal versuchen wir, zu Fuß zu gehen«, sagte Mama. »Es ist auch billiger.« Die Schule lag in einer Seitenstraße der Champs Elysees, das war eine wunderbare, breite

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