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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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blieb, und Anna hatte das Gefühl, daß Max in dieser neuen Welt, in der sie leben mußten, enorme Fortschritte machte, und sie fürchtete, daß sie ihn nie mehr einholen würde.
    »Wenn ich nur in die Schule gehen könnte - in irgendeine«, sagte Anna zu Mama.
    »Du kannst nicht einfach in irgendeine gehen«, sagte Mama ärgerlich. Sie hatte sich verschiedene Schulen angesehen, aber keine hatte etwas getaugt.
    Sie hatte sogar Madame Fernand gefragt. Es war eine bedrückende Zeit.
    Auch Papa war müde. Er hatte sich überarbeitet und fing wieder an, unter Alpträumen zu leiden. Mama sagte, er hätte sie schon früher gehabt, aber im Gasthof Zwirn hatten die Kinder nichts davon gemerkt. Er träumte immer das gleiche - daß er versuchte, aus Deutschland hinauszukommen und von den Nazis an der Grenze aufgehalten wurde. Dann wachte er schreiend auf.
    Max schlief so fest, daß Papas Alpträume ihn nicht störten, obgleich Papa im Zimmer nebenan schlief, aber Anna hörte ihn immer, und es quälte sie schrecklich. Wenn Papa schnell wachgeworden wäre, mit einem lauten Schrei, dann wäre es nicht so schrecklich gewesen. Aber die Alpträume fingen immer langsam an. Papa stöhnte und stieß erschreckende Grunzlaute aus, bis er schließlich in den lauten Schrei ausbrach.
    Als es zum ersten Mal geschah, dachte Anna, Papa müßte krank sein. Sie lief in sein Zimmer und stand hilflos an seinem Bett und rief nach Mama. Aber auch als Mama ihr das mit den Alpträumen erklärte und Papa ihr sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, war es für sie immer noch gleich schlimm. Es war schrecklich, im Bett zu liegen und zuhören zu müssen, wie Papa im Traum so furchtbare Dinge passierten.
    Eines Abends, als Anna zu Bett gegangen war, wünschte sie sehr inständig, Papa würde keine Alpträume mehr haben.
    »Bitte, bitte«, flüsterte sie - denn obgleich sie nicht eigentlich an Gott glaubte, hoffte sie doch immer, daß es jemanden gäbe, der diese Dinge lenken konnte - »o, bitte, laß mich die Alpträume haben, statt Papa!«
    Dann lag sie ganz still und wartete auf den Schlaf, aber nichts geschah.
    Max drückte sich das Kissen unter dem Gesicht zurecht, seufzte zweimal und war gleich darauf eingeschlafen. Aber Anna hatte das Gefühl, daß Stunden vergingen, während sie immer noch hellwach dalag und an die dunkle Decke starrte. Sie fing an, ärgerlich zu werden. Wie konnte sie einen Alptraum haben, wenn sie nicht einmal einschlief? Sie hatte versucht, Rechenaufgaben im Kopf zu lösen und an alle möglichen langweiligen Sachen zu denken, aber nichts hatte genützt. Vielleicht würde es helfen, wenn sie aufstand und einen Schluck Wasser trank. Aber im Bett war es so gemütlich, daß sie den Gedanken aufgab.
    Aber sie mußte doch wohl aufgestanden sein, denn sie befand sich plötzlich im Flur. Sie war nicht mehr durstig, und sie beschloß, mit dem Lift nach unten zu fahren und nachzuschauen, wie die Straße mitten in der Nacht aussah. Zu ihrer Überraschung schlief die Concierge in einer Hängematte, die quer vor die Haustür gehängt war, und sie mußte diese beiseitedrücken, um hinauszukommen. Sie schlug die Tür hinter ihr zu. Hoffentlich würde die Concierge nicht davon aufwachen. Dann stand sie auf der Straße.
    Es war still und über allem lag ein sonderbarer brauner Schimmer, den sie nie zuvor bemerkt hatte.
    Zwei Männer eilten vorüber und trugen einen Weihnachtsbaum.
    Der eine von ihnen sagte: »Es ist besser, hineinzugehen. Es kommt!«
    »Was kommt?« fragte Anna, aber die Männer verschwanden um die Ecke, und im gleichen Augenblick hörte sie ein schlurfendes Geräusch aus der entgegengesetzten Richtung. Der braune Schimmer wurde dichter, und dann schob sich ein riesiges, langes Wesen am Ende der Straße um die Ecke. Obgleich es so riesig war, war doch etwas Vertrautes an ihm, und Anna merkte plötzlich, daß es Pumpel war, der zu Riesengröße angewachsen war. Das schlurfende Geräusch kam von seinen Pfoten, und er sah Anna mit seinen kleinen boshaften Augen an und leckte sich die Lippen.
    »O nein!« schrie Anna.
    Sie versuchte, wegzulaufen, aber die Luft war wie Blei. Sie konnte sich nicht rühren. Pumpel kam auf sie zu.
    Sie hörte das Surren von Rädern, und ein Polizist kam mit fliegendem Cape auf seinem Fahrrad an ihr vorbeigeflitzt.
    »Zähl die Beine!« schrie er, während er an ihr vorbeischoß, »es ist die einzige Möglichkeit!«
    Wie konnte sie Pumpels Beine zählen? Er war wie ein Tausendfüßler, seine Beine

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