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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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sagte Großtante Sarah und es sah ganz gefährlich aus, wie sie sich auf dem kleinen Stuhl vorbeugte, »aber ich bin ein bißchen taub.«
    Sie betrachtete Anna zum erstenmal genau und machte ein erstauntes Gesicht.
    »Meine Güte, Kind!« rief sie aus, »was für lange Beine du hast! Frierst du nicht daran?«
    »Nein«, sagte Anna, »aber Mama sagt, wenn ich noch mehr wachse, wird mein Mantel nicht mal mehr meinen Schlüpfer bedecken.«
    Sobald die Worte heraus waren, wünschte sie, sie hätte sie nicht gesagt. So etwas sagte man doch wohl nicht zu einer Großtante, die man kaum kannte.
    »Was?« fragte Großtante Sarah.
    Anna konnte spüren, wie sie rot wurde.
    »Einen Augenblick«, sagte Großtante Sarah, und plötzlich zog sie irgendwoher aus ihren Kleidern einen Gegenstand, der wie eine Trompete aussah.
    »Da«, sagte sie und steckte das dünne Ende nicht in den Mund, wie Anna fast erwartet hatte, sondern ins Ohr. »Jetzt sag es noch einmal, Kind - sehr laut - in meine Trompete.«
    Anna versuchte verzweifelt, sich etwas anderes auszudenken, das doch einen Sinn ergab, aber sie war wie vernagelt. Es fiel ihr nichts anderes ein.
    »Mama sagt«, schrie sie in das Hörrohr, »daß, wenn ich noch mehr wachse, mein Mantel nicht mal mehr meinen Schlüpfer bedeckt.«
    Als sie ihr Gesicht zurückzog, konnte sie spüren, daß sie knallrot geworden war.
    Tante Sarah schien einen Augenblick lang wie verdattert. Dann kräuselten sich alle ihre Falten, und ein Geräusch zwischen einem Winseln und einem Kichern entschlüpfte ihr.
    »Ganz recht!« rief sie und ihre schwarzen Augen tanzten, »deine Mama hat ganz recht. Aber was will sie dagegen tun, heh?«
    Sie wandte sich an Mama.
    »Was für ein drolliges Kind. Was hast du für ein liebes, drolliges Kind!« Dann erhob sie sich mit überraschender Gewandtheit von ihrem Stuhl und sagte: »So, ihr müßt jetzt reinkommen und Tee trinken. Ich habe ein paar alte Damen hier, die Bridge gespielt haben, aber die werde ich schnell los sein«, - und sie eilte ihnen in einem leichten Galopp ins Wohnzimmer voraus.
    Das erste, was Anna an Großtante Sarahs alten Damen auffiel, war, daß sie alle viel jünger aussahen als Großtante Sarah. Es waren etwa ein Dutzend, alle sehr elegant gekleidet mit reichverzierten Hüten. Sie waren mit Bridgespielen fertig - Anna sah, daß die 184
    Spieltische an die Wand geschoben worden waren - und sie tranken jetzt Tee und aßen dazu winzige Plätzchen, die das Mädchen auf einem Silbertablett herumreichte.
    »Sie kommen jeden Donnerstag«, flüsterte Großtante Sarah auf deutsch. »Die armen alten Dinger, sie haben nichts besseres zu tun. Aber sie sind alle sehr reich, und sie geben mir Geld für meine notleidenden Kinder.«
    Anna, die sich eben erst von ihrer Überraschung über die alten Damen erholt hatte, konnte sich schlecht vorstellen, wie Großtante Sarah von notleidenden Kinder umgeben, wohl aussah. Sie konnte sie sich überhaupt nicht mit Kindern vorstellen. Aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sie wurde zusammen mit Mama mit lauter Stimme vorgestellt.
    »Meine Nichte und ihre Tochter sind aus Deutschland gekommen«, schrie Großtante Sarah auf französisch, aber mit einem starken deutschen Akzent. »Sag Bonschur«, flüsterte sie Anna zu.
    »Bonjour«, sagte Anna.
    Großtante Sarah schlug vor Bewunderung die Hände über dem Kopf zusammen. »Hört euch das Kind an!« rief sie. »Erst ein paar Wochen in Paris, und sie spricht schon besser Französisch als ich!«
    Anna fand es schwer, diesen Eindruck aufrechtzuerhalten, als eine der Damen versuchte, sie in eine Unterhaltung zu ziehen, aber es wurden ihr weitere Anstrengungen erspart, als Tante Sarahs Stimme wieder erschallte.
    »Ich habe meine Nichte seit Jahren nicht gesehen«, schrie sie, »und ich habe mich so auf ein Gespräch mit ihr gefreut.«
    Nach diesen Worten tranken die Damen hastig ihren Tee aus und begannen sich zu verabschieden.
    Während sie Großtante Sarah die Hand schüttelten, steckten sie Geld in eine Büchse, die sie ihnen hinhielt, und sie dankte ihnen. Anna hätte gern gewußt, wie viele notleidende Kinder Großtante Sarah hatte.
    Dann begleitete das Mädchen die Gäste zur Tür, und schließlich waren sie alle verschwunden.
    Es war ohne sie schön still, aber Anna bemerkte mit Bedauern, daß das Silbertablett mit dem kleinen Gebäck zusammen mit den Damen verschwunden war, und daß das Mädchen die leeren Tassen einsammelte und hinaustrug. Großtante Sarah

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