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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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mußte ihr Versprechen, den Tee betreffend, vergessen haben.
    Sie saß mit Mama auf dem Sofa und erzählte ihr von ihren notleidenden Kindern. Es stellte sich heraus, daß damit nicht ihre eigenen Kinder gemeint waren. Sie sammelte für einen Wohltätigkeitsverein Geld, und Anna, die sich vor kurzem noch Großtante Sarah umgeben von einem geheimen Kreis von zerlumpten Knirpsen vorgestellt hatte, fühlte sich irgendwie betrogen. Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum, und Großtante Sarah mußte das bemerkt haben, denn sie unterbrach sich plötzlich.
    »Das Kind langweilt sich und hat Hunger«, rief sie und fragte das Dienstmädchen: »Sind die alten Damen alle gegangen?«
    Das Mädchen bejahte.
    »Also dann«, rief Großtante Sarah, »kannst du den richtigen Tee bringen.«
    Einen Augenblick später kam das Dienstmädchen schwer beladen mit einem riesigen Kuchentablett zurück. Es mußten fünf oder sechs verschiedene Sorten sein. Außerdem gab es noch belegte Brote und Kekse. Auch eine Kanne mit frischem Tee und Schokolade mit Schlagsahne wurden aufgetischt.
    »Ich liebe Kuchen«, rief Großtante Sarah auf Mamas erstaunten Blick hin, »aber es hat keinen Sinn, ihn diesen alten Damen anzubieten. Sie sind alle auf ihre schlanke Linie bedacht. Da hab ich mir gedacht, wir nehmen unseren Tee, wenn sie gegangen sind.«
    Nach dieser Erklärung klatschte sie ein Riesenstück Apfeltorte auf einen Teller, bedeckte es mit Schlagsahne und reichte es Anna.
    »Das Kind muß gut ernährt werden«, sagte sie.
    Während des Tees stellte sie Mama Fragen über Papas Arbeit und über ihre Wohnung, und manchmal mußte Mama ihre Antworten in das Hörrohr wiederholen. Mama sprach ganz heiter über alles, aber Großtante Sarah schüttelte immer wieder den Kopf und sagte: »So leben zu müssen ... ein so berühmter Mann...!«
    Sie kannte Papas sämtliche Bücher und bezog die »Pariser Zeitung« nur, um seine Artikel lesen zu können. Immer wieder sah sie Anna an und sagte: »Und das Kind - so mager!« Darauf drängte sie ihr noch ein Stück Kuchen auf.
    Als schließlich niemand mehr etwas essen konnte, kam Großtante Sarah schwerfällig hinter dem Teetisch hervor und bewegte sich in ihrem gewöhnlichen Trott auf die Tür zu, wobei sie Mama und Anna winkte, ihr zu folgen. Sie führte sie in ein anderes Zimmer, in dem Kartons gestapelt waren.
    »Seht mal«, sagte sie, »all das ist mir für meine notleidenden Kinder geschenkt worden.«
    Die Kartons waren mit Stoffresten in den verschiedensten Farben und Qualitäten gefüllt.
    »Eine meiner alten Damen ist mit einem Textilfabrikanten verheiratet«, erklärte Großtante Sarah, »er ist sehr reich und schenkt mir alle Stoffreste, die er nicht mehr braucht. Mir ist da ein Einfall gekommen.
    Warum soll Anna nicht etwas davon haben? Schließlich ist sie doch auch notleidend!«
    »Nein, nein«, sagte Mama, »das kann ich nicht annehmen!«
    »Ach - immer noch so stolz«, sagte Großtante Sarah. »Das Kind braucht etwas anzuziehen. Warum sollte sie nichts von dem hier bekommen?«
    Sie wühlte in einem der Kartons und zog einen dicken Wollstoff in einem wunderschönen Grünton heraus. »Genau richtig für einen Mantel«, sagte sie, »und ein Kleid braucht sie auch, und vielleicht einen Rock...«
    Im Nu hatte sie einen Haufen Stoff auf dem Bett zurechtgelegt, und wenn Mama versuchte, Einspruch zu erheben, rief sie nur: »So ein Unsinn! Willst du, daß die Polizei das Kind festnimmt, weil man seine Höschen sieht?«
    Bei diesem Einwand mußte Mama, die sowieso nicht allzu energisch protestiert hatte, lachen und gab nach. Das Dienstmädchen wurde angewiesen, alles einzupacken, und als es Zeit war, zu gehen, trugen Mama und Anna jede ein großes Paket.
    »Vielen, vielen Dank«, schrie Anna in Großtante Sarahs Hörrohr hinein, »ich wollte schon immer einmal einen grünen Mantel haben!«
    »Er soll dir Glück bringen«, schrie Großtante Sarah zurück.
    Dann waren sie draußen, und während sie im Dunkeln heimgingen, berieten sie, was sie mit den verschiedenen Stoffresten alles machen könnten. Sobald sie zu Hause waren, rief Mama Madame Fernand an und erzählte ihr von den Geschenken. Madame Fernand lud sie ein, am nächsten Donnerstag mit den Stoffen zu ihr zu kommen und dort ein großes Nähfest zu veranstalten.
    »Das wird herrlich!« rief Anna, »ich kann es kaum erwarten, es Papa zu erzählen.« - Und in diesem Augenblick kam Papa nach Hause. Sie sprudelte aufgeregt heraus, was geschehen war.

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