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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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Er war ein großer Mann mit einem klugen Gesicht, und oft, wenn die Kinder im Eßzimmer spielten, konnte Anna seine tiefe Stimme und Papas Stimme im Wohnschlafzimmer nebenan hören. Sie schienen immer etwas miteinander zu besprechen zu haben, und manchmal hörte Anna sie auch laut miteinander lachen. Das machte sie immer froh, denn sie haßte den müden Ausdruck, den Papas Gesicht angenommen hatte, als er von Großtante Sarahs Kleiderstoffen hörte. Sie hatte bemerkt, daß dieser Ausdruck manchmal wiederkehrte, gewöhnlich wenn Mama von Geld redete. Monsieur Fernand konnte diesen Ausdruck immer vertreiben.
    Die neuen Kleider waren bald fertig, und Anna fand, daß sie nie so hübsche Kleider besessen hatte.
    Als sie sie zum ersten Mal trug, besuchte sie Großtante Sarah, um sie ihr zu zeigen, und nahm ihr ein Gedicht mit, daß sie als besondere Dankesgabe geschrieben hatte. Es beschrieb alle Kleidungsstücke ausführlich und endete mit den Zeilen: All dies verdank’ ich - nichts ist klarer - Der lieben, guten Tante Sarah!
    »Du meine Güte«, sagte Tante Sarah, als sie es gelesen hatte, »Kind, du wirst noch einmal eine Schriftstellerin wie dein Vater!«
    Sie schien sich schrecklich zu freuen. Auch Anna freute sich, denn durch das Gedicht schien es endgültig bewiesen zu sein, daß das Geschenk keine Wohltätigkeit gewesen war. Und außerdem war es ihr zum erstenmal gelungen, ein Gedicht über ein anderes Thema zu schreiben als über einen Unglücksfall.

18
    Im April wurde es plötzlich Frühling, und obgleich Anna versuchte, den schönen grünen Mantel, den Madame Fernand genäht hatte, weiter zu tragen, wurde er ihr doch bald zu warm. Es war ein Vergnügen, an diesen hellen, sonnigen Morgen in die Schule zu gehen, und da die Pariser die Fenster öffneten, um die warme Luft hineinzulassen, strömten allerlei interessante Gerüche nach draußen und mischten sich mit dem Frühlingsduft in den Straßen. Unter den bekannten warmen Knoblauchhauch, der aus der Metro aufstieg, mischten sich plötzlich köstliche Duftwolken von Kaffee, frischem Brot oder Zwiebeln, die für das Mittagessen gebraten wurden. Als der Frühling weiter fortschritt, öffneten sich nicht nur die Fenster, sondern auch die Türen, und während sie die sonnenhelle Straße entlangging, konnte sie einen Blick in die dämmrigen Innenräume der Cafes und Läden werfen, die den ganzen Winter hindurch unsichtbar gewesen waren. Jeder wollte in der Sonne verweilen, und auf den Bürgersteigen der Champs Elysees standen überall Tische und Stühle, zwischen denen Kellner in weißen Jacken herumflitzten und die Gäste mit Getränken versorgten.
    Der erste Mai hieß der Tag der Maiglöckchen. An jeder Straßenecke tauchten Riesenkörbe mit diesen grün-weißen Sträußchen auf, und von überallher hörte man die Rufe der Verkäufer. Papa mußte an diesem Morgen früh zu einer Verabredung und begleitete Anna ein Stück auf ihrem Schulweg. Er blieb an einem Kiosk stehen, um einem alten Mann eine Zeitung abzukaufen. Auf der Vorderseite war ein Bild Hitlers, der eine Rede hielt, aber der alte Mann faltete die Zeitung so zusammen, daß das Bild verschwand.
    Dann zog er die Luft ein und zeigte lächelnd seinen einzigen Zahn.
    »Es riecht nach Frühling«, sagte er.
    Papa lächelte zurück, und Anna wußte, was er jetzt dachte: wie schön es doch sei, einen Frühling in Paris zu erleben. An der nächsten Ecke kauften sie einen Strauß Maiglöckchen, ohne auch nur zu fragen, was er kostete.
    Bei dem strahlenden Wetter draußen schien das Schulgebäude düster und kühl, aber Anna freute sich jeden Morgen darauf, Colette, die ihre besondere Freundin geworden war, und Madame Socrate zu sehen. Obgleich der Schultag ihr immer noch ermüdend und lang vorkam, begann sie doch besser zu verstehen, was um sie herum vorging. Die Fehler in den Diktaten hatten sich langsam von hundert auf etwa fünfzig vermindert. Madame Socrate half ihr immer noch in den Mittagspausen, und manchmal gelang ihr es sogar, eine Frage im Unterricht zu beantworten.
    Zu Hause entwickelte sich Mama zu einer wirklich guten Köchin, da Madame Fernand ihr mit gutem Rat beistand. Papa erklärte, er habe noch nie im Leben daheim so gut gegessen. Die Kinder bekamen Geschmack an allen möglichen Nahrungsmitteln, von denen sie früher nicht einmal gehört hatten, und sie tranken wie französische Kinder ein Gemisch aus Wasser und Wein zum Essen. Sogar die dicke Clothilde in der Schulküche war mit dem Essen

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