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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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»Und ich werde ein Kleid und einen Mantel bekommen«, plapperte sie, »und Großtante Sarah hat es uns geschenkt, weil es für notleidende Kinder bestimmt ist, und sie sagte, ich hätte es genau so nötig wie die andern, und wir haben einen herrlichen Tee bekommen...«
    Als sie den Ausdruck auf Papas Gesicht bemerkte, verstummte sie.
    »Was soll das alles bedeuten?« fragte er Mama.
    »Es ist genau so, wie Anna dir erzählt hat«, sagte Mama, und ihre Stimme klang vorsichtig. »Großtante Sarah hatte einen ganzen Haufen Stoffreste, der ihr geschenkt worden ist, und sie wollte, daß Anna etwas davon haben soll.«
    »Aber das Zeug ist ihr für notleidende Kinder geschenkt worden«, sagte Papa.
    »So hieß es nur«, sagte Mama. »Sie ist in verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen. Sie ist eine sehr gütige Frau...«
    »Wohltätigkeit?« sagte Papa. »Wir können für unsere Kinder keine Wohltätigkeit annehmen.«
    »Oh, warum mußt du immer alles so kompliziert sehen?« schrie Mama. »Diese Frau ist meine Tante, und sie wollte Anna ein paar Kleidungsstücke schenken. Das ist alles.«
    »Ehrlich Papa. Ich glaube nicht, daß sie es so gemeint hat, daß es dir mißfallen könnte«, warf Anna ein. Ihr war elend, und sie wünschte schon, den Stoff nie gesehen zu haben.
    »Es ist ein Geschenk für Anna von einer Verwandten«, sagte Mama.
    »Nein«, sagte Papa, »es ist das Geschenk einer Verwandten, die einen Wohltätigkeitsverein betreibt. Wohltätigkeit für notleidende Kinder.«
    »Also gut, dann bringe ich es zurück«, schrie Mama, »wenn du das wünschst! Aber dann sag mir, was das Kind anziehen soll? Weißt du, was Kinderkleider im Laden kosten? Sieh dir doch das Kind an. Sieh sie dir doch einmal richtig an!«
    Papa sah Anna an, und Anna erwiderte den Blick.
    Sie wollte die neuen Kleider haben, aber sie wollte nicht, daß Papa so deswegen litt. Sie zog an ihrem Rock, damit er länger aussehen sollte. »Papa...«, sagte sie.
    »Du siehst wirklich ein bißchen notleidend aus«, meinte Papa. Er schien sehr müde.
    »Es macht doch nichts«, sagte Anna.
    »Doch, es macht etwas«, sagte Papa, »es ist wichtig.« Er befühlte den Stoff in den Paketen. »Ist das der Stoff?«
    Sie nickte.
    »Gut. Dann laß dir neue Kleider daraus machen«, sagte Papa. »Warme Sachen«, murmelte er und ging aus dem Zimmer.
    An diesem Abend lagen Max und Anna im Dunkeln im Bett und sprachen miteinander.
    »Ich wußte nicht, daß wir notleidend sind«, sagte Anna, »sind wir das wirklich?«
    »Papa verdient nicht viel«, sagte Max, »die Pariser Zeitung kann ihm für seine Artikel nicht viel bezahlen, und die französischen Zeitungen haben ihre eigenen Journalisten.«
    »In Deutschland haben sie ihm aber viel bezahlt.«
    »O ja.«
    Eine Weile lagen sie da, ohne zu sprechen. Dann sagte Anna: »Komisch, nicht?«
    »Was?«
    »Wir dachten doch, wir wären in sechs Monaten wieder in Berlin. Jetzt sind wir schon länger als ein Jahr fort.«
    »Ich weiß«, sagte Max.
    Ganz plötzlich, ohne einen besonderen Grund, erinnerte sich Anna so lebhaft an ihr altes Haus. Sie erinnerte sich, was man empfand, wenn man die Treppe hinauflief. Sie sah den kleinen Flecken auf dem Treppenabsatz, wo sie einmal Tinte verschüttet hatte. Sie meinte, von den Fenstern aus, auf den Birnbaum im Garten zu blicken. Die Vorhänge im Kinderzimmer waren blau, und dort stand ein weißgestrichener Tisch, an dem man schreiben und zeichnen konnte, und Bertha, das Hausmädchen, hatte ihn jeden Tag sauber gemacht, und es hatte dort eine Menge Spielsachen gegeben... Aber es hatte keinen Sinn, weiter daran zu denken, darum machte sie die Augen zu und schlief ein.

17
    Das Nähfest bei den Fernands wurde zu einem großen Erfolg. Madame Fernand war genauso nett, wie Anna sie im Gedächtnis hatte, und sie schnitt den Stoff von Großtante Sarah so geschickt zu, daß außer einem Mantel, einem Kleid und einem Rock für Anna auch noch eine kurze graue Hose für Max herauskam.
    Als Mama sich erbot, beim Nähen zu helfen, sah Madame Fernand sie nur an und lachte.
    »Sie setzen sich ans Klavier und spielen«, sagte sie, »mit dem hier komme ich schon allein zurecht.«
    »Aber ich habe Nähutensilien mitgebracht«, sagte Mama. Sie wühlte in ihrer Handtasche und brachte eine alte weiße Garnrolle und eine Nähnadel zum Vorschein.
    »Meine Liebe«, sagte Madame Fernand sehr freundlich, »ich würde Sie nicht einmal ein Taschentuch säumen lassen.«
    Mama spielte also in einer Ecke des freundlichen

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