Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Fernandschen Wohnzimmers Klavier, während Madame Fernand in der andern nähte, und Anna und Max gingen mit Francine Fernand spielen.
Bevor sie kamen, hatte Max wegen Francine seine Zweifel gehabt.
»Ich habe keine Lust, mit einem Mädchen zu spielen«, hatte er gesagt. Er hatte sogar vorgegeben, wegen seiner Hausaufgaben nicht mitkommen zu können.
»Du bist doch sonst nicht so versessen auf deine Aufgaben«, sagte Mama ärgerlich, aber das war nicht ganz gerecht, denn Max war, weil er möglichst schnell Französisch lernen wollte, in letzter Zeit, was die Schule betraf, viel gewissenhafter geworden. Er gab sich beleidigt und brummig, bis sie bei den Fernands ankamen und Francine ihnen die Tür aufmachte. Da hatte seine gerunzelte Stirn sich schnell geglättet. Francine war ein bemerkenswert hübsches Mädchen mit langem honigfarbenen Haar und grauen Augen.
»Du bist gewiß Francine«, sagte Max und fügte heuchlerischerweise in bemerkenswert gutem Französisch hinzu: »Ich habe mich so darauf gefreut, dich kennenzulernen.«
Francine hatte eine Menge Spielsachen und eine große weiße Katze. Die Katze kam sofort zu Anna und blieb auf ihrem Schoß sitzen, während Francine etwas in ihrem Spielschrank suchte. Schließlich hatte sie es gefunden.
»Das hab ich zu meinem letzten Geburtstag bekommen«, sagte sie und brachte eine Spiele-Sammlung, genau wie jene, die Max und Anna in Deutschland besessen hatten.
Max’ und Annas Blicke trafen sich über das weiße Fell der Katze hinweg.
»Darf ich sehen?« fragte Max und hatte die Schachtel schon geöffnet, bevor Francine zustimmen konnte.
Er betrachtete lange den Inhalt, nahm die Würfel in die Hand, die Schachfiguren, die verschiedenen Arten von Spielkarten.
»Wir hatten früher auch so eine Schachtel mit Spielen«, sagte er schließlich, »aber bei uns war noch ein Domino dabei.«
Francine blickte ein wenig betreten drein, weil man ihr Geburtstagsgeschenk bemängelte.
»Was ist denn mit euren Spielen passiert?« fragte sie.
»Wir mußten sie zurücklassen«, sagte Max und fügte finster hinzu: »Wahrscheinlich spielt Hitler jetzt damit.«
Francine lachte: »Also, dann müßt ihr eben jetzt statt dessen mit diesem spielen«, sagte sie, »da ich keine Geschwister habe, ist nicht oft jemand da, der mit mir spielt.«
Danach spielten sie den ganzen Nachmittag »Mensch-ärgere-dich-nicht« und »Dame«. Es war schön, denn die weiße Katze saß die ganze Zeit auf Annas Schoß, und Anna brauchte während der Spiele nicht viel französisch zu sprechen. Die weiße Katze hatte nichts dagegen, daß über ihren Kopf hinweg gewürfelt wurde und wollte nicht einmal von Annas Schoß herunter, als Madame Fernand Anna zur Anprobe rief. Zum Tee fraß die Katze ein Stückchen Hefekuchen mit Zuckerguß, das Anna ihr gab, und danach sprang sie sofort wieder auf Annas Schoß und es war, als lächele sie sie über ihre langen weißen Schnurrhaare hinweg an. Als es Zeit war zu gehen, lief sie Anna bis an die Wohnungstür nach.
»Was für eine schöne Katze«, sagte Mama, als sie das Tier sah. Anna hätte ihr so gern erzählt, wie sie auf ihrem Schoß gesessen hatte, während sie »Mensch-ärgere-dich-nicht« spielten, aber es kam ihr unhöflich vor, deutsch zu sprechen, da Madame Fernand es nicht verstand. Daher versuchte sie stockend, es auf Französisch zu erklären.
»Sie haben doch gesagt, Anna spräche kaum Französisch«, sagte Madame Fernand.
Mama machte ein erfreutes Gesicht. »Sie macht einen Anfang«, sagte sie.
»Macht einen Anfang«, rief Madame Fernand aus, »ich habe noch nie zwei Kinder kennengelernt, die so schnell eine Sprache lernen. Max konnte man manchmal fast für einen französischen Jungen halten, und was Anna betrifft ... vor ein oder zwei Monaten konnte sie kaum ein Wort sagen, und jetzt versteht sie schon alles!«
Es stimmte nicht ganz. Es gab immer noch vieles, was Anna nicht verstand, aber sie war trotzdem hocherfreut. Sie war von den schnellen Fortschritten, die Max machte, so beeindruckt gewesen, daß sie nicht bemerkt hatte, wie sehr auch ihre Kenntnisse zunahmen.
Madame Fernand lud sie alle für den kommenden Sonntag ein, damit Anna noch einmal alles anprobieren konnte, aber Mama sagte nein, das nächste Mal müßten Fernands zu ihnen kommen. So begann eine Reihe von gegenseitigen Besuchen, an denen beide Familien ihre Freude hatten und die bald zu einer regelmäßigen Einrichtung wurden.
Papa genoß besonders Monsieur Fernands Gesellschaft.
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