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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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schön, das ihnen nun vertraute Schweizerdeutsch zu hören und alles verstehen zu können, was die Leute sagten. Franzl und Vreneli waren zu Anna und Max genauso freundlich, als seien sie erst gestern getrennt worden. Im Nu hatte Vreneli Anna alle Neuigkeiten über den rothaarigen Jungen berichtet, der offenbar angefangen hatte, Vreneli in einer gewissen Weise anzusehen - einer herzlichen Weise wie Vreneli sagte - die sie nicht beschreiben konnte, die ihr aber zu gefallen schien. Franz nahm Max mit derselben alten Angelrute zum Fischen mit, sie spielten dieselben Spiele und gingen auf denselben Pfaden durch die Wälder, die sie im vergangenen Jahr so geliebt hatten. Es war alles genau wie es gewesen war, und trotzdem gab es da etwas, was Anna und Max daran erinnerte, daß sie aus der Fremde kamen.
    Wie hatte das Leben der Zwirns so gleich bleiben können, wo ihres doch so anders geworden war?
    »Man sollte doch denken«, meinte Max, »daß sich bei euch wenigstens irgend etwas verändert hätte.«
    »Ja, was denn nur?« fragte Franz ganz erstaunt.
    Eines Tages ging Anna mit Vreneli und Rösli durch das Dorf. Sie trafen Herrn Graupe.
    »Willkommen in unserem schönen Schweizerland!« rief er und schüttelte Anna begeistert die Hand, und sogleich stellte er ihr alle möglichen Fragen über die Schule in Frankreich. Er war davon überzeugt, daß keine Schule, wo immer auf der Welt, so gut sein könne, wie seine Dorfschule hier. Anna merkte, daß sie beinahe einen entschuldigenden Ton anschlug, als sie erklärte, daß es ihr sehr gut gefiele.
    »Wirklich?« fragte Herr Graupe ungläubig, als sie von der Arbeit erzählte und von ihrem Frühstücken mit Clothilde in der Schulküche und von Madame Socrate.
    Und dann passierte ihr etwas Seltsames. Herr Graupe fragte sie, wann die Kinder in Frankreich aus der Schule entlassen würden. Sie wußte das nicht so genau, aber statt ihm auf deutsch zu antworten, zuckte sie plötzlich die Schultern und sagte: »Je ne sais pas.«
    In ihrem besten Pariser Akzent. Sie wußte, daß er denken würde, sie wollte prahlen. Aber das war nicht beabsichtigt gewesen. Sie begriff gar nicht, woher die Worte gekommen waren. Es war, als hätte irgend etwas in ihr heimlich französisch gedacht, und das war lächerlich. Da sie in Paris niemals imstande gewesen war, französisch zu denken, wie sollte sie da jetzt plötzlich hier damit anfangen?
    »Ich sehe, wir werden schon ganz französisch«, sagte Herr Graupe mißbilligend. »Nun - ich will dich nicht aufhalten.« Damit ging er davon.
    Vreneli und Rösli waren ungewöhnlich still, als sie alle zusammen zurückgingen.
    »Vermutlich kannst du jetzt französisch sprechen wie gar nichts«, sagte Vreneli schließlich.
    »Nein«, sagte Anna. »Max kann es viel besser.«
    »Ich kann ›oui‹ sagen - ich glaube, das heißt ja, nicht wahr?« sagte Rösli. »Gibt es in Frankreich auch Berge?«
    »Nicht in der Nähe von Paris«, sagte Anna.
    Vreneli hatte Anna gedankenverloren angestarrt.
    Jetzt sagte sie: »Weißt du, du bist doch irgendwie anders geworden.«
    »Unsinn«, rief Anna, »das stimmt nicht!« Aber sie wußte, daß Vreneli recht hatte, und plötzlich, obwohl sie erst elf Jahre alt war, fühlte sie sich ganz alt und traurig.
    Die Ferien vergingen schnell. Die Kinder badeten und spielten mit den Zwirns, und wenn es nicht ganz so war wie sonst, so war es doch schön. Was machte es schon, sagte Max, daß sie nicht mehr ganz dazu gehörten. Am Ende des Sommers waren sie traurig, daß sie fort mußten, und nahmen lange und herzlich Abschied von ihren Freunden. Aber nach Paris zurückzugehen kam ihnen beiden, Max und Anna, fast so vor, als ob sie nach Hause gingen, und das hätten sie nie für möglich gehalten.

19
    Als die Schule wieder anfing, stellte Anna fest, daß sie versetzt worden war. Madame Socrate war immer noch ihre Lehrerin, aber die Arbeit war plötzlich viel schwerer. Das kam daher, daß die Klasse auf ein Examen vorbereitet wurde, das sich »certificat d’études« nannte, und das alle Schülerinnen außer Anna im kommenden Sommer ablegen sollten.
    »Ich bin entschuldigt, weil ich keine Französin bin«, sagte Anna zu Mama, »es wäre einfach unmöglich für mich, es zu bestehen.« Aber sie mußte trotzdem die gleiche Arbeit tun. Man erwartete von den Mädchen ihrer Klasse, daß sie nach der Schule wenigstens eine Stunde Hausaufgaben machten, sie mußten ganze Seiten Geschichte und Erdkunde auswendig lernen, Aufsätze schreiben und

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