Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
löffelten, erschien ein alter Mann mit einem Schemel und einem Akkordeon. Er setzte sich zu den Gästen und begann zu spielen, und bald standen ein paar Leute von ihren Tischen auf, um auf der Straße zu tanzen.
Ein lustiger Matrose kam auf Mama zu und forderte sie zum Tanzen auf. Mama war zuerst überrascht, aber dann nahm sie an, und Anna sah zu, wie sie immer im Kreis herumgewirbelt wurde, immer noch mit erstauntem, aber doch fröhlichem Gesicht. Dann tanzte Monsieur Fernand mit Francine, und Anna tanzte mit Papa, und Madame Fernand sagte, im Augenblick habe sie noch keine Lust zu tanzen, denn sie konnte sehen, daß Max es einfach gräßlich finden würde, bis schließlich Monsieur Fernand erklärte: »Jetzt wollen wir weiterbummeln!« Es war kühler geworden, und während sie durch die Straßen schlenderten, in denen sich überall Menschen drängten, fühlte sich Anna leicht beschwingt und überhaupt nicht müde. Man hörte Akkordeonmusik, Leute tanzten, und manchmal blieben Mama, Papa und die Fernands eine Weile stehen und tanzten mit. In einigen Cafes wurde zur Feier des Tages kostenlos Wein ausgeschenkt, und wenn sie eine Ruhepause brauchten, kehrten sie ein. Die Erwachsenen tranken Wein und die Kinder Cassis, ein Getränk aus einem süßen Johannisbeersaft und Sprudel. Sie sahen den Fluß im Mondlicht glänzen, und mitten auf dem Wasser stand die Kathedrale Notre Dame wie ein großes dunkles Tier. Einmal gingen sie unmittelbar am Ufer vorbei und unter Brücken hindurch, und auch hier gab es Akkordeonspieler und tanzende Menschen! Sie liefen immer weiter, und Anna verlor allmählich jedes Zeitgefühl, und sie folgten Monsieur Fernand wie durch einen glücklichen Traum.
Plötzlich fragte Max: »Was ist das für ein komisches Licht am Himmel?«
Es war die Morgendämmerung.
Sie hatten jetzt die Markthallen von Paris erreicht, und überall rumpelten mit Obst und Gemüse beladene Karren über das Kopfsteinpflaster.
»Hungrig?« fragte Monsieur Fernand.
Es war lächerlich, denn obgleich sie schon zweimal zu Abend gegessen hatten, waren alle schrecklich hungrig. Hier spielte kein Akkordeon, die Leute machten sich zur Arbeit auf, und in einem kleinen Cafe servierte eine Frau Schüsselchen mit dampfender Zwiebelsuppe. Auf Holzbänken neben den Marktleuten sitzend, löffelten sie ihre Schüsseln leer und tunkten die Suppe mit Brot auf. Als sie aus dem Cafe kamen, war es heller Tag.
»Jetzt können Sie die Kinder ins Bett stecken«, sagte Monsieur Fernand, »sie haben erlebt, wie man den vierzehnten Juli feiert.« Nach einem schläfrigen Abschied fuhren sie mit der Metro heim und fielen in ihre Betten.
»In Deutschland haben wir nie einen vierzehnten Juli gehabt«, sagte Anna noch, ehe sie einschlief.
»Natürlich nicht«, sagte Max, »wir hatten ja auch nicht die Französische Revolution.«
»Das weiß ich«, sagte Anna böse und fügte, schon halb im Schlaf hinzu: »Aber schön war es doch.«
Dann standen die Sommerferien vor der Tür. Gerade als sie überlegten, was sie anfangen sollten, kam ein Brief von Herrn Zwirn, der die ganze Familie einlud, im Gasthof Zwirn seine Gäste zu sein. Und gerade als sie sich den Kopf zerbrachen, woher das Fahrgeld nehmen, bekam Papa den Auftrag, drei Artikel für eine französische Zeitung zu schreiben.
Diese Zeitung zahlte viel besser als die »Pariser Zeitung«. So war auch dieses Problem gelöst.
Alle freuten sich auf die Ferien, und um dem ganzen die Krone aufzusetzen, brachte Max am letzten Schultag ein gutes Zeugnis nach Hause. Mama und Papa trauten ihren Augen kaum, als sie es lasen. Da stand nirgends: »Zeigt kein Interesse« oder »Gibt sich keine Mühe«. Statt dessen kamen Wörter vor wie »intelligent« und »fleißig« und unten auf der Seite prangte ein Satz des Schulleiters, daß Max bemerkenswerte Fortschritte gemacht habe. Das munterte Mama so auf, daß sie ganz herzlich von Grete Abschied nahm, die nach Österreich zurückfuhr. Sie waren alle so froh, sie loszuwerden. Das ließ sie ganz besonders nett zu ihr sein, und Mama schenkte ihr sogar einen kleinen Schal. »Ich weiß nicht, ob man so etwas in Österreich trägt«, meinte Grete mürrisch, als sie ihn betrachtete, aber sie nahm ihn trotzdem an.
Und dann machten auch sie sich an die Vorbereitungen für ihre Reise in die Schweiz.
Im Gasthof Zwirn fanden sie alles unverändert.
Herr und Frau Zwirn waren herzlich wie immer, und nach der Pariser Hitze war die Luft am See wunderbar frisch. Es war
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