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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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naß«, sagte Anna - wieder in perfektem Französisch und ohne nachzudenken.
    Es war wie ein Wunder. Sie konnte nicht glauben, daß es dauern würde. Es war, als hätte sie plötzlich herausgefunden, daß sie fliegen konnte, und sie erwartete jeden Augenblick, wieder auf die Erde zu stürzen. Mit schneller pochendem Herzen als sonst betrat sie das Klassenzimmer - aber ihre neue Fähigkeit blieb. In der ersten Stunde beantwortete sie vier Fragen richtig, daß Madame Socrate erstaunt aufblickte und sagte: »Gut gemacht.« In der Pause plauderte und lachte sie mit Colette, und während des Mittagessens erklärte sie Clothilde, wie Mama Leber mit Zwiebeln zubereitete. Ein paarmal zögerte sie noch, und natürlich machte sie noch Fehler. Aber die meiste Zeit konnte sie französisch so sprechen wie sie deutsch sprach - automatisch und ohne nachzudenken.
    Am Ende des Tages war sie beinahe schwindelig vor Erregung, aber gar nicht müde, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, erlebte sie einen Augenblick tiefen Schreckens. Wenn nun ihre neue Fähigkeit, so plötzlich wie sie gekommen, wieder verschwunden war? Aber sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Als sie in die Schule kam, stellte sie fest, daß sie sogar flüssiger sprach als am Tag zuvor.
    Am Ende der Woche betrachtete Mama sie voller Erstaunen. »Ich habe noch nie bei einem Menschen eine solche Veränderung erlebt«, sagte sie, »vor ein paar Tagen sahst du noch blaß und elend aus. Jetzt ist es, als wärest du fünf Zentimeter gewachsen, und du hast ganz rosige Wangen. Was ist nur mit dir geschehen?«
    »Ich glaube, ich kann jetzt französisch sprechen«, sagte Anna.

20
    Zu Weihnachten konnten sie noch weniger Geld ausgeben als im vergangenen Jahr, aber wegen der Fernands war es lustiger. Das größte Fest ist in Frankreich nicht der Weihnachtsabend sondern Silvester, und man erlaubt dann sogar den Kindern, bis Mitternacht aufzubleiben. Sie waren alle zu einem festlichen Essen bei Fernands eingeladen, wo sie auch Geschenke austauschten. Anna hatte etwas von ihrem Taschengeld genommen, um Schokolade als Geschenk für die weiße Katze zu kaufen und statt nach dem Essen mit Max und Francine zu spielen, blieb sie im Wohnzimmer, um die Katze auf dem Fußboden mit kleinen Stückchen Schokolade zu füttern. Mama und Madame Fernand wuschen in der Küche das Geschirr und Papa und Monsieur Fernand tranken Cognac und führten, tief in ihre Sessel zurückgelehnt, eins ihrer endlosen Gespräche.
    Papa schien an dem Gespräch sehr interessiert, und Anna war froh, denn seit dem Morgen, an dem eine Postkarte von Onkel Julius gekommen war, war er schweigsam und niedergeschlagen gewesen. Während des ganzen Jahres waren in unregelmäßigen Abständen Postkarten von Onkel Julius gekommen, und obgleich sie nie etwas wirklich Neues mitteilten, waren sie immer voller Herzlichkeit. Manchmal waren kleine Scherze darauf, und immer Nachrichten für »Tante Alice«, auf die Papa antwortete. Die letzte Karte war wie gewöhnlich an Anna adressiert gewesen, aber »Tante Alice« war nicht erwähnt, es fehlten auch Glückwünsche zum Neuen Jahr. Statt dessen trug die Rückseite eine Abbildung von Bären, und Onkel Julius hatte nur geschrieben: »Je mehr ich von den Menschen sehe, desto mehr liebe ich die Tiere.«
    Er hatte nicht einmal wie sonst mit seinen Anfangsbuchstaben unterschrieben, aber wegen der schönen, zierlichen Handschrift wußten sie, daß die Karte von ihm kam.
    Papa hatte sie gelesen, ohne ein Wort zu sagen und sie dann zu den anderen Karten und Briefen von Onkel Julius gelegt, die er sorgfältig in einer Schublade seines Schreibtisches verwahrte. Er hatte für den Rest des Tages kaum gesprochen, und es tat gut, zu sehen, wie angeregt er sich jetzt mit Monsieur Fernand unterhielt.
    »Aber Sie leben in einem freien Land«, sagte er gerade, »nichts anderes ist wichtig.«
    »Ja, aber...«, sagte Monsieur Fernand, und Anna merkte, daß er sich wieder wegen der Wirtschaftskrise Sorgen machte.
    Die Wirtschaftskrise war das einzige, das Monsieur Fernand die gute Laune verderben konnte, und obgleich Anna schon mehrmals gefragt hatte, was das sei, hatte es ihr niemand erklären können. Es war etwas, das in Frankreich geschehen war, und es hatte zur Folge, daß alle weniger Geld und weniger Arbeit hatten, und es hatte zur Folge gehabt, daß ein paar von Monsieur Fernands Kollegen von der Zeitung entlassen worden waren. Immer wenn Monsieur Fernand über die Wirtschaftskrise

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