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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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Grammatik lernen - und Anna mußte all das in einer Sprache tun, die sie immer noch nicht völlig sicher beherrschte.
    Sogar im Rechnen, das bis jetzt ihre große Stärke gewesen war, kam sie nicht mehr mit. Statt einfacher Rechenaufgaben, bei denen keine Übersetzung nötig war, rechnete die Klasse jetzt eingekleidete Aufgaben - lange, komplizierte Satzgebilde, in denen Leute in Zügen aneinander vorbeifuhren und in einem bestimmten Tempo Behälter mit Wasser füllten und sie in einem anderen Tempo wieder leerten. Das alles mußte sie sich ins Deutsche übersetzen, ehe sie beginnen konnte, darüber nachzudenken.
    Als es kälter wurde und die Tage kürzer, begann sie, sich sehr müde zu fühlen. Sie zog die Füße auf dem Heimweg von der Schule nach und saß da und starrte auf ihre Hausaufgaben, statt sich an die Arbeit zu machen. Sie fühlte sich plötzlich ganz mutlos.
    Madame Socrate, die das bevorstehende Examen im Kopf hatte, konnte nicht mehr soviel Zeit für sie erübrigen, und Annas Leistungen schienen eher schlechter als besser zu werden. Was sie auch tun mochte, sie brachte es nicht fertig, im Diktat auf weniger als vierzig Fehler zu kommen - in der letzten Zeit waren es oft mehr als fünfzig gewesen. Im Unterricht wußte sie oft die Antwort, aber es dauerte so lange, bis sie sie ins Französische übersetzt hatte, so daß es meist zu spät war, um sich zu melden. Sie hatte das Gefühl, daß es ihr nie gelingen werde, die andern einzuholen, und sie war es leid, sich immer so anzustrengen.
    Eines Tages kam Mama ins Zimmer, als sie über ihren Aufgaben saß.
    »Bist du bald fertig?« fragte Mama.
    »Noch nicht«, sagte Anna, und Mama trat zu ihr und schaute in ihr Heft.
    Es waren Rechenaufgaben, und alles, was Anna geschrieben hatte, war: »Eingekleidete Aufgaben« und das Datum.
    Sie hatte mit dem Lineal ein Kästchen um die Wörter »Eingekleidete Aufgaben« gezogen, und dieses Kästchen mit einer Wellenlinie in roter Tinte umgeben. Dann hatte sie die Wellenlinie mit Pünktchen verziert und drumherum eine Zickzacklinie gemalt, und diese wieder mit blauen Pünktchen verziert. Zu all dem hatte sie beinahe eine Stunde gebraucht.
    Bei diesem Anblick explodierte Mama.
    »Kein Wunder, daß du mit deinen Aufgaben nicht fertig wirst. Du schiebst sie immer wieder auf, bis du zu müde bist, noch einen Gedanken zu fassen. Auf diese Weise wirst du überhaupt nichts lernen!«
    Dies war so genau, was Anna selber dachte, daß sie in Tränen ausbrach.
    »Ich strenge mich doch an«, schluchzte sie, »aber ich kann es einfach nicht. Es ist zu schwer! Ich versuche und versuche, und es hat keinen Sinn!«
    Und bei einem neuen Ausbruch tropften die Tränen auf die Überschrift »Eingekleidete Aufgaben«, so daß das Papier Blasen warf. Die Wellenlinie verlief und vermischte sich mit dem Zickzack.
    »Natürlich kannst du es«, sagte Mama und griff nach dem Buch. »Sieh mal, ich helfe dir...«
    Aber Anna schrie ganz heftig: »Nein!« und stieß das Buch weg, daß es über die Tischkante rutschte und zu Boden fiel.
    »Nun, offenbar bist du heute nicht in der Lage, Aufgaben zu machen«, sagte Mama, nachdem sie einen Augenblick geschwiegen hatte. Sie ging aus dem Zimmer.
    Anna fragte sich gerade, was sie tun sollte, als Mama im Mantel zurückkam.
    »Ich muß noch Kabeljau zum Abendessen kaufen«, sagte sie, »am besten gehst du ein bißchen mit an die frische Luft.«
    Sie liefen ohne zu sprechen nebeneinander die Straße hinunter. Es war kalt und dunkel, und Anna trottete, die Hände in den Manteltaschen, neben Mama her und fühlte sich ganz leer. Sie taugte nichts.
    Sie würde nie richtig Französisch lernen. Sie war wie Grete, die nie hatte lernen können, aber anders als Grete konnte sie nicht in ihr eigenes Land zurückkehren. Bei diesem Gedanken kamen ihr wieder die Tränen, und Mama mußte sie am Arm packen, damit sie nicht in eine alte Dame hineinlief.
    Das Fischgeschäft war ziemlich weit entfernt in einer belebten, hellerleuchteten Straße. Nebenan war eine Konditorei, in deren Schaufenster cremige Köstlichkeiten ausgestellt waren, die man entweder mitnehmen oder an einem der kleinen Tische drinnen verzehren konnte. Anna und Max hatten den Laden oft bewundert, hatten aber nie einen Fuß hineingesetzt, weil es zu teuer war. Diesmal war Anna zu elend zumute, um auch nur hineinzuschauen, aber Mama blieb an der schweren Glastür stehen. »Wir wollen hier hineingehen«, sagte sie zu Annas Überraschung und schob sie durch die

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