Als ich lernte zu fliegen
ein gemeinsames Frühstück, und Asif ertappte sich dabei, dass er vom Buffet nur Gelbes genommen hatte, wo doch alle bunten Herrlichkeiten wie Obstsalat, weiße Bohnen in Tomatensauce und gebratene Würstchen vor ihm aufgetischt waren – und statt Kaffee hatte er sich Orangensaft eingegossen. Ihm kam der Gedanke, Yasmin richte sich womöglich nach ihm – und nicht umgekehrt – und würde nun, da der pingelige alte Asif nicht da war, in Coco Pops, Tee und Erdbeerjoghurt schwelgen. Manchmal fragt er sich deshalb, ob er nicht selbst schon ein halber Asperger-Fall ist, auch wenn das jeder Logik widerspricht: Ein bisschen nicht-neurotypisch kann man genauso wenig sein wie ein bisschen schwanger, verheiratet oder tot.
Asif schlängelt sich durch das wirre Durcheinander auf den Straßen und steigt mit all den anderen unsichtbaren Anzugträgern die Treppe zur Station Finchley Central hinunter; manche umklammern einen Pappbecher mit Kaffee, andere brüllen schon jetzt wichtig in ihr Handy. Wenn sie so wichtig wären, würden sie nicht hier wohnen, überlegt Asif. Gerade denkt er, dass er nie vom Büro aus auf seinem Firmenhandy angerufen wird, da beginnt es irgendwo in seinen Taschen erst zu vibrieren und dann diskret zu klingeln. Beim Versuch, das Ding zu finden, lässt er seine Aktentasche fallen, und als er das Handy schließlich hervorzieht, hüpft es ihm, von schadenfrohem Eigenleben beseelt, aus der Hand. Tollpatschig fängt er es auf und meldet sich atemlos, während die anderen geschniegelten Anzugträger ihn amüsiert beobachten; durch seine ungeschickte Slapstick-Einlage ist der Mantel der Unsichtbarkeit von ihm gerutscht. »Hallo?«, meldet er sich.
»Asif Murphy?«, fragt eine strenge Frauenstimme, die ihm vage bekannt vorkommt; dennoch kann er sie nicht einordnen.
»Ja, Asif Murphy«, flüstert er verlegen, denn er hasst es, seinen Namen in der Öffentlichkeit laut auszusprechen.
»Clodagh. Hector hat heute Vormittag einen Termin mit einem Kunden und braucht die Ordner mit den ungesicherten Gläubigern A bis D im Fall Gough Jenkins. Sie haben die Ordner am Freitag gegen Unterschrift aus dem Archiv entliehen.« Kein Wunder, dass Asif ihre Stimme nicht einsortieren konnte – er kommt kaum in die Verlegenheit, je mit Clodagh zu sprechen, einem Drachen mit grellem Lippenstift und einem Helm grauer Haare; sie ist Hectors Sekretärin und wacht streng darüber, wer zu ihm vorgelassen wird. Hector ist Teilhaber und für Unternehmenssanierungen zuständig. Er ist so wichtig, dass er nie zu arbeiten scheint, abgesehen von den seltenen Malen, wenn er geräuschvoll aus seinem Büro marschiert, Duftwolken von teurem Rasierwasser und exklusivem Essen verbreitet und die Spesenabrechnungen und Mitarbeiterbeurteilungen seiner Abteilung ungelesen unterschreibt; denn er kann sich darauf verlassen, dass die Details bereits von seinen emsiger arbeitenden Untergebenen geprüft worden sind.
Asif antwortet nervös: »Die müssten eigentlich wieder im Archiv stehen; ich habe sie noch am Freitagnachmittag Terry gegeben, damit er sie zurückbringt.«
»T erry?«, fragt Clodagh ungläubig.
Asif fällt ein, dass sie Terry vielleicht nicht kennt, da er noch kein Diplom hat und in der Firmenhierarchie sogar noch unter Asif steht. Er fängt an zu erklären: »T erry, der Assistent in der Konkursverwaltung. Er sitzt um die Ecke, in der Nähe der Kopierer, schwarze Haare, Igelfrisur …« Die U-Bahn fährt endlich ein. Asif steigt ein, ist aber so abgelenkt, dass er gar nicht erst um einen Sitzplatz kämpft, sondern dicht bei den Türen im Gedränge stehen bleibt.
»Ich weiß, wer Terry ist, Asif.« In Clodaghs kaltem Tonfall klingt »Sie Trottel« so deutlich durch, dass Worte nicht mehr nötig sind. »Er ist heute nicht da, und diese Ordner auch nicht. Ich kann Ihnen nur nahelegen, schnellstmöglich herzukommen und die Akten zu beschaffen. Das Meeting beginnt um neun Uhr dreißig.«
»Entschuldigung, wie war das? Halb zehn? Mein Empfang wird immer schlechter«, sagt Asif etwas hektisch, kurz bevor die Verbindung abbricht, als die U-Bahn in den Tunnel saust. Sicher hat Clodagh sowieso schon aufgelegt. Dieser verdammte unzuverlässige Terry. Wahrscheinlich hat er die Ordner im nächstbesten Sitzungszimmer abgelegt und dann wieder mit Helena geschäkert, einer Sekretärin der Abteilung Finanzdienste nebenan. Asif sieht auf die Uhr, wahrscheinlich erreicht er die Firma um Viertel vor neun und hat dann eine knappe
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