Als ich lernte zu fliegen
Dreiviertelstunde Zeit, um die Ordner zu finden, falls sein unmittelbarer Vorgesetzter nicht gleich wegen des neuesten Bewilligungsformulars über ihn herfällt. Er fühlt sich sehr schutzlos, als er sein Handy in die Tasche schiebt, und erlebt einen Moment der Panik, als er im Gewühl seine Aktentasche nicht sieht. Die alte Aktentasche seines Vaters, abgenutzt, aber unersetzlich – hat er sie womöglich auf dem Bahnsteig stehen lassen? Dann merkt er, dass sie zwischen seinen Füßen klemmt, und stößt einen deutlich hörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Er hat das Gefühl, alle anderen haben ihn die ganze Zeit über angestarrt, auch wenn sie jetzt mit gelangweilten, leeren Blicken vor sich hin starren, die Werbung im Wagen überfliegen, unbehaglich mit den Füßen scharren oder versuchen, ihre Zeitungen oder Taschenbücher zu lesen. Asif steht festgekeilt, auf Tuchfühlung mit einem anderen jungen Mann im Anzug, der sich von Asif gar nicht so sehr unterscheidet, nur dass seine Haare blond sind statt braun. »Scheiß-Montag, was?«, sagt der junge Blonde mit einem australischen Akzent. Asif nickt, senkt den Blick und betrachtet seine Füße, durch das unerwartete Mitgefühl zugleich getröstet und beschämt. Manchmal macht ihm die merkwürdige Intimität in der U-Bahn genauso zu schaffen wie Yasmin; völlig Fremde werden hier allein deshalb, weil sie in dieselbe Richtung fahren, so eng zusammengepfercht, dass jeder fünf seiner Mitfahrer küssen könnte. Yasmins Abneigung gegen die U-Bahn ist eine der Eigenschaften, die Asif an ihr mag, denn sie ist etwas, das sie teilen, und sie ist etwas beruhigend Normales; jeder hasst die U-Bahn.
Asif steigt bei Temple aus und kehrt der Schönheit des Flusses an diesem kalten Wintermorgen den Rücken zu. Er hastet dem Gebäude entgegen, das wie ein grauer Monolith in die Höhe ragt und zugleich Sitz des multinationalen Konzerns ist, für den er arbeitet. Die »Anonymen Aktenwälzer« hat Lila die Mitarbeiter des Unternehmens mit nervtötender Treffsicherheit genannt, als handele es sich um eine Art Selbsthilfegruppe. Ich heiße Asif Murphy und bin anonymer Aktenwälzer, verkündet er in seiner Fantasie beim monatlichen Meeting seiner Abteilung; schließlich besteht der erste Schritt, bevor einem geholfen werden kann, doch in dem Eingeständnis, dass man ein Problem hat, oder? Er geht an der massiven Marmortheke mit dem teuren exotischen Blumenschmuck vorbei und zieht seine Karte durch das Lesegerät, um den Aufzug zu rufen. Im zweiten Stock steigen zwei Kollegen aus der Steuerabteilung zu; beide sind aus demselben Hochschuljahrgang wie Asif, wurden zusammen mit ihm eingestellt und haben mit ihm die firmeninternen Prüfungen gemacht. Im behaglichen Gefühl der Überlegenheit grüßen sie Asif fröhlich. Niedergeschlagen muss er feststellen, wie viel wohlhabender die beiden jetzt schon wirken; die Steuerabteilung zahlt die besten Gehälter. Asif steigt im fünften Stock aus, bleibt an seinem Schreibtisch nur stehen, um seinen Computer anzuschalten und seine Aktentasche abzustellen, und eilt dann zu Terrys Arbeitsbereich hinüber. Die Akten sind nirgendwo zu sehen, er beginnt, alle öffentlichen Bereiche und dann die Sitzungsräume der Abteilung methodisch abzusuchen, zuletzt den selten benutzten, winzigen und fensterlosen Raum 510 c, in dem die Beleuchtung manchmal flimmert. Asif stürmt hinein, und vor Überraschung entfährt ihm ein Aufschrei.
»Oh Gott, tut mir leid«, sagt er und weicht zurück. In dem Raum sitzt die wahrscheinlich schönste Frau der Welt und stillt ein wuschelhaariges Baby, das voller Wut und Entrüstung über die Unterbrechung den Kopf von der Brust zieht, die Augen zukneift, den zahnlosen Mund weit aufreißt und losbrüllt. Die braune Brustwarze der schönen Frau liegt kurz entblößt da, doch sie bedeckt sie gelassen mit der Hand, knöpft die Bluse wieder zu und legt das Baby in die Autositzschale neben sich. Ihre Haare, ein glänzender, fließender Vorhang aus dunkler Seide, enden knapp unterhalb der Kinnlinie; ihre braunen Augen neigen sich leicht schräg nach oben, als fingen sie die letzten Ausläufer eines Lächelns ein.
»Melody, jetzt beruhig dich um Gottes willen«, spricht sie mit fester Stimme zu dem Baby, das gehorsam verstummt, an seinem Fäustchen zu saugen beginnt und dann gebannt die quietschbunte Spirale der Stofftiere betrachtet, die vom Griff des Babysitzes herunterhängt. »Sie müssen sich doch nicht entschuldigen. Haben Sie
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