Als ich lernte zu fliegen
groß, fast so groß wie Asif.
»Pst!« Asif blickte beunruhigt zu Yasmin hinüber, die im Garten feierlich konzentrische Kreise abschritt. Die Kreise wurden immer größer und waren der Grund, warum Mum die beiden Älteren aufgefordert hatte, in der Ecke zu spielen, wo sie Yasmin nicht in die Quere kämen und keinen Tobsuchtsanfall bei ihr provozieren würden. Asif glaubte, Mum hätte das Wort »T obsuchtsanfall« eigens für Yasmin erfunden, den Freibrief für ein Riesen-Theater wegen nichts und wieder nichts, für das sie beruhigt und gehätschelt und getröstet werden musste, als wäre sie gestürzt und hätte sich wehgetan. Wenn Lila sauer wurde oder wegen einer blöden Kleinigkeit herumzickte, wurde sie nicht gehätschelt und umsorgt, sondern bekam nur Ärger und wurde in ihr Zimmer geschickt. Asif wollte keinen Ärger, deshalb wurde er nie sauer und machte auch nie einen Aufstand; manchmal verhielt er sich so still und untadelig, dass seine Mutter gar nicht bemerkte, dass er da war, ein mustergültiges Vorführkind.
»Leahs Schwester ist drei und trägt keine Windeln mehr. Ich kann mich an meine Windeln nicht mehr erinnern, deshalb muss ich schon als Baby keine mehr gebraucht haben«, fuhr Lila fort. »Yas ist WIRKLICH zu alt für Windeln; sie kommt bald in die Schule, und in der Schule trägt NIEMAND mehr Windeln.«
Yasmin hielt im Laufen inne und wandte sich an Lila, ohne den Blick vom Boden zu heben. »Ich weiß, dass du über mich redest, du sprichst wirklich laut, und ich habe gehört, dass du meinen Namen gesagt hast.«
»Ich hab doch gesagt, du sollst still sein«, flüsterte Asif nervös zu Lila hinüber und wartete auf den gefürchteten Tobsuchtsanfall.
»Ich habe nur gesagt, dass du zu alt bist für Windeln«, verteidigte sich Lila.
Yasmin nickte und sah jetzt in Lilas Richtung, ihr aber nicht direkt in die Augen. »Ja, ich bin zu alt für Windeln. Die meisten Kinder brauchen keine mehr, wenn sie zwei oder drei Jahre alt sind. Aber ich brauche sie noch, weil ich besonders bin, weil mein Gehirn anders arbeitet und es nicht so wichtig findet, wann ich Pipi machen muss. Und Mum nennt sie meine großen Schlüpfer, nicht Windeln, und auf der Schachtel steht Höschen, weil man sie anzieht wie Unterhosen …« Yasmin fuhr noch etwa fünf Minuten in diesem Stil fort, brach dann genauso abrupt ab, wie sie angefangen hatte, und begann wieder ihre Kreise abzuschreiten. Während sie langsam und äußerlich ruhig dahinspazierte, überstürzten sich ihre Gedanken. Asif und Lila wussten nicht, dass sie die Kreise nachging, die Mum vorigen Sommer mit Kalkfarbe auf den Rasen gemalt hatte, um Yasmin etwas über persönliche räumliche Grenzen beizubringen. Sie hatte zu diesem Mittel gegriffen, als sie bemerkte, dass Yasmin keine klaren Vorstellungen davon hatte; manchmal stellte sie sich so dicht neben Fremde, dass sie deren Körperwärme spüren konnte, aber wenn eine Freundin der Familie zu ihr kam und sie umarmen oder küssen wollte, fing sie an zu zetern. Yasmin hatte in der Mitte eines kleinen Kreises gestanden, der zeigte, wie nah ihr die Familie kommen durfte; dann wurde ein größerer Kreis für Freunde gezogen, ein noch größerer für Bekannte, ein wieder größerer für Leute wie den Postboten und schließlich der größte für Fremde. Ihre Mutter verwandte auch große Sorgfalt darauf, Yasmin zu erklären, in welchen Situationen diese Kreise nicht galten, zum Beispiel in der U-Bahn, wenn alle dicht an dicht stehen, aber nur, weil es nicht genug Platz gibt; sie schärfte Yasmin auch ein, dass man sich in der U-Bahn, wenn reichlich Platz vorhanden ist, nicht direkt neben Fremde stellen sollte.
Yasmin fand diese Regeln verwirrend. Sie versuchte, sie zu befolgen, aber sie liefen ihrem Gefühl zuwider. Sie mochte die Wärme und den Duft hübscher Damen auf der Straße oder in den Läden und rückte gern nah an sie heran, obwohl sie sie nicht kannte. Es gefiel ihr, dass sie und diese Damen einander nichts zu sagen hatten und sie Yasmin deshalb in Ruhe ließen. Überhaupt nicht gefiel ihr dagegen, wenn Leute, die sie kannte, sie umarmten und ihre Bewegungsfreiheit einschränkten; sie mochte es nicht, wenn sie von feuchten, klebrigen Mündern geküsst, von oben bis unten gemustert und nach ihrem Befinden gefragt wurde. Wenn jemand seine Aufmerksamkeit auf sie richtete, bekam sie Juckreiz wie von Sonnenlicht; dann kehrte sie den Leuten lieber den Rücken zu und sah etwas anderes an, zum Beispiel Farbspritzer
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