Als ich lernte zu fliegen
wieder den neuen Erfordernissen angepasst. Bevor Asif achtzehn wurde, war ihr Plan gewesen, die Kinder zur Familie ihres Mannes nach Irland zu schicken, ihren engsten noch lebenden Verwandten, obwohl sie sie nur von den fröhlichen Karten kannten, die zu Weihnachten und – als eine Art Insiderwitz – zum St Patrick’s Day eintrafen. Als Asif dann achtzehn und Lila siebzehn war, befand die Mutter, es sei einfacher, wenn die Kinder zu Hause blieben und auf den Fonds zurückgriffen, den sie für die Ausbildung der Kinder eingerichtet hatte. Asif und Lila sollten unter Aufsicht der Sozialfürsorge Yasmin betreuen. Die weithin unbekannten Verwandten sandten eine Kondolenzkarte, boten aber weder finanziellen noch praktischen Beistand an; eigentlich waren sie wie Fremde, die vor Dads Tod noch nie zu Besuch gekommen waren, und wahrscheinlich erleichtert, dass sie keine Verantwortung für drei verwaiste Halbwüchsige übernehmen mussten. So musste Asif Mums Stelle als Oberhaupt der Familie einnehmen und sich um die vierzehnjährige Yasmin kümmern; alle Sozialarbeiter, Pflegekräfte, Fachärzte und Pädagogen, mit denen er es zu tun bekam, priesen ihn einhellig als herzensguten Jungen.
»Bist ein guter Kerl, Asif«, hatte sein Tutor im Fach Wirtschaftswissenschaften zu ihm gesagt, als Asif ihm mitteilte, dass er sein Studium in Cambridge aufgeben müsse, da er zu Hause gebraucht werde, um für seine Schwester zu sorgen. Wie ein guter Kerl fühlte sich Asif keineswegs; am liebsten hätte er das Sherryglas, das ihm sein Tutor freundschaftlich anbot, an die eichengetäfelte Wand geschmettert. Er wünschte sich, dass ihm jemand sagte, er solle bloß aufhören, so verdammt gut zu sein, und zur Abwechslung mal an sich selbst denken, seine Schwester der unbekannten irischen Familie väterlicherseits überlassen und seine eigenen Pläne verfolgen, seinen Uniabschluss machen, eine brillante Karriere beginnen und endlich ein selbstbestimmtes Leben führen. Er wünschte sich, dass ihm jemand sagte, er habe seiner kleinen Schwester schon genug von seiner Kindheit geopfert, da müsse sie nicht auch noch den Rest seines Lebens ruinieren. Er war überhaupt nicht gut, sondern gemein, voller Groll, ein Heuchler; er ertappte sich bei dem Wunsch, Mum hätte doch zwei Jahre früher sterben sollen, dann wären sie alle nach Belfast verschifft worden, und er hätte Yasmin verlassen können, sobald er aufs College ging. Der einzige Mensch, der ihn aufforderte, endlich mit dem verdammten Gutsein aufzuhören, der ihn nicht zum Gutsein verurteilte, war Lila, und er liebte sie dafür, auch wenn er so tat, als missbillige er ihre Gedankenlosigkeit und ihre vielen Unfreundlichkeiten gegenüber Yasmin.
Natürlich hat Asif das Glas nicht an die Wand geschmettert und nie die Hilfe der unbekannten Verwandten eingefordert. Resigniert nippte er stattdessen an seinem Sherry und berichtete dem Tutor, er habe einen Platz an der London School of Economics bekommen, wo er sein Studium abschließen könne. Dann fügte er sich den Wünschen seiner Mutter.
Niemand war schuld, es lebte niemand mehr, dem er hätte Vorwürfe machen können. Es hatte sich eben so ergeben – wie zuvor Mum würde nun er die Verantwortung für Yasmin tragen, bis zu dem Tag, an dem einer von ihnen sterben würde.
Andersdenkend
Ich heiße Yasmin Murphy und verstehe nicht sehr gut, wie andere Menschen denken. Die Spezialisten haben mir gesagt, dass es mir an Einfühlungsvermögen mangelt; das heißt, ich tue gar nicht erst so, als wüsste ich, was andere denken, weil mir klar ist, dass ich es im Grunde nicht wissen kann, und im Raten und Erfinden bin ich nicht gut. Außerdem habe ich gar keine Gelegenheit zum Raten oder Erfinden, weil mein eigener Verstand unaufhörlich arbeitet und meine Aufmerksamkeit beansprucht. Die Lehrer sagen oft, ich sei zerstreut oder würde mich nicht konzentrieren, dabei konzentriere ich mich sehr, aber auf das Falsche, auf meine Innenwelt statt auf die Außenwelt.
Ich kann meine Gedanken nicht abschalten wie andere; manchmal kommt Asif nach Hause, trinkt ein Bier, macht den Fernseher an, langweilt sich und sieht aus, als würde er gleich auf dem Sofa eindösen. Wenn ich ihn dann frage, woran er denkt, sagt er, »An nichts«, und ich glaube, es könnte ganz angenehm sein, gelegentlich an nichts zu denken. Manchmal versuche ich, meinen Gedanken zu entkommen, aber das ist schwierig, weil in mir eine Art Satellitenfernsehen auf
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