Als ich lernte zu fliegen
diesen Raum gebucht? Mir wurde gesagt, er wäre höchstwahrscheinlich frei.« Die Frau hebt ihre gestreifte Kostümjacke auf und schlüpft hinein.
»Es tut mir wirklich sehr, sehr leid«, wiederholt Asif. »Der Raum ist frei, ich war nur auf der Suche nach Akten. Ich wollte Sie nicht stören.« Die Frau lächelt, und unter ihrem offenen Blick, ihrer strahlenden, souveränen Mütterlichkeit fühlt sich Asif wie in Freundlichkeit gebadet und spürt plötzlich den Drang, sich ihr anzuvertrauen, ihr von Clodaghs Anruf zu erzählen, von Terrys Unzuverlässigkeit, von Hectors Drohung, von all den dummen kleinen Ärgernissen heute Vormittag, die keinen Menschen auf der Welt interessieren.
»Noch einmal: Sie müssen sich nicht entschuldigen. Melody war so gut wie fertig, und sie hat meinen Busen nicht zum ersten Mal den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben. Sie lässt sich so leicht ablenken. Wenigstens ist es nicht in der Kantine passiert, beim Frühstückstoast, vor der versammelten Mannschaft.«
Melody sieht Asif mit funkelnden, schrägen Augen, die denen ihrer Mutter gleichen, misstrauisch an und zieht dabei mit ihren kleinen Patschhändchen eifrig an ihrem Stofftiermobile. Schließlich schafft sie es, das Spielzeug herunterzuzerren, und die bunte Spirale mit dem absurden lila Schaf, der roten Kuh und dem grünen Löwen plumpst ihr bimmelnd, rasselnd und quiekend in den Schoß. Explosionsartig bricht Melody in Heiterkeit aus; begeistert über ihre Leistung gluckst sie so heftig, dass Asif eine Schrecksekunde lang einen Anfall vermutet. Jeder winzige Zug ihres runden Gesichts lacht mit, ihr ganzer rundlicher Körper zappelt vor Vergnügen.
»Ein wunderschönes Baby haben Sie da«, sagt Asif. Er hat lächelnde, freudestrahlende Babys bisher nur in der Werbung, aber noch nie in Wirklichkeit gesehen und staunt, wie viel Glück, wie viel unkomplizierte Freude ein so kleines Kind empfinden kann. Yasmin war, wie er sich erinnert, als Baby entweder schlecht gelaunt oder hat gebrüllt und das ganze Haus in den Wahnsinn getrieben.
»Ganz der Vater«, wehrt die Frau ab.
»Nein, sie ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.« Asif merkt erst hinterher, was er da gesagt hat. Die Frau nimmt das Kompliment so ungezwungen entgegen, wie es nur jemand vermag, der Bewunderung gewöhnt ist. Sie greift nach dem Babysitz mit ihrem immer noch glucksenden Kind.
»Ich will Sie nicht länger stören«, sagt sie, hebt die Schale etwas ungeschickt hoch und wedelt Asif weg, als er einen Schritt auf sie zu macht, um ihr zu helfen. »Melodys Babysitter ist sicher schon unten.« Sie geht zum Lift und ruft ihm noch nach: »V iel Glück bei der Aktensuche!«
Um zwanzig nach neun muss Asif seine Niederlage eingestehen und stapft schamrot zu Clodaghs Schreibtisch. »T ut mir leid, ich habe überall gesucht, aber ich kann die Akten, die Hector haben wollte, nicht finden.«
Clodagh sieht ihn stirnrunzelnd an. »Natürlich können Sie die nicht finden. Sie sind längst bei Hector. Wir haben sie schließlich doch im Archiv entdeckt. Ich habe Ihnen eine Nachricht auf Ihre Mailbox gesprochen. Haben Sie die nicht abgehört?«
Als Asif zu seinem Schreibtisch zurückkehrt, blinkt tatsächlich das rote Lämpchen an seinem Telefon. Er hatte es in der Eile nicht bemerkt. Wäre er nicht von Kollegen umgeben, würde er jetzt frustriert den Kopf auf die Schreibtischplatte fallen lassen. So aber geht er zur Toilette und schlägt ihn stattdessen dort gegen den Spiegel, so kräftig, dass er es spürt, so leise, dass er keinen Verdacht erregt. Wie-bumm-blöd-bumm-ist-bumm-er-bumm-eigentlich?!-bumm-bumm- BUMM . Er erinnert sich an Lilas Hohngeschrei aus der Kindheit: »Du Blödmann, du blöder KERL !«, als wären seine Dummheit und seine Männlichkeit untrennbar miteinander verbunden, ein hässliches Doppelpack. Er pinkelt und atmet tief durch, bevor er sich noch einmal im Spiegel betrachtet; zu seiner Beruhigung sieht er genauso aus wie alle anderen, kompetent und unwichtig. Er schlendert aus der Toilette heraus und nimmt seine Arbeit wieder auf; bis zum Mittag muss er einige Zahlen zum Konkursverfahren Burrows Carlin abliefern.
Milch und Limonade
»W enn Yas so schlau ist, warum hat sie dann immer noch Windeln an?«, fragte Lila laut, als sie mit Asif in einer Ecke des Gartens spielte. Sie hatte eine Jeans an und ein kaugummirosa T-Shirt mit dem Aufdruck »Pop-Prinzessin«, einer Krone und einem Mikrofon. Für ihre neun Jahre war sie
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