Als ich lernte zu fliegen
Antworten:
Als Mum gestorben ist, habe ich Verlust empfunden. Aber nicht, wie andere Menschen Verlust zu empfinden scheinen – bei ihnen ist viel körperliche Trauer beteiligt wie Tränen und Schreien –, sondern auf meine eigene Art. In meinem Kopf habe ich einen Verlust gespürt, und zwar den Verlust von Erinnerungen, die an diesem Tag hätten aufgezeichnet werden sollen. Deshalb erinnere ich mich kaum an Einzelheiten von Mums Todestag.
Mein bester Freund ist mein Bruder Asif, weil er mit mir etwas unternimmt, weil er anderen Leuten erklärt, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollen, und weil er mir Ratschläge gibt, die in der Regel richtig sind.
Meine erste Liebe war meine Mum. Sie ist der erste Mensch, zu dem ich gesagt habe, ich liebe dich.
Natürlich bin ich glücklich.
Natürlich habe ich Hoffnung.
Die Psychologin wollte, dass ich zu den letzten beiden Fragen noch mehr sage, aber das habe ich nicht getan, damit sie nicht merkt, dass ich gelogen habe. Vielleicht habe ich mich auch schon durch das Wort »natürlich« verraten. In Wirklichkeit bin ich nicht glücklich. Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt schon einmal richtig glücklich war, wie man es aus Büchern und Filmen kennt, ob ich dieses reine Glücksgefühl empfunden habe, wie man es bei ganz kleinen Kindern sieht, wenn sie lachen, oder bei Hunden, wenn sie mit dem Schwanz wedeln. Es gibt Dinge, die ich gern tue; theoretisch müsste ich also glücklich sein, wenn ich diese Dinge ununterbrochen tue, zum Beispiel die Simpsons gucken, abwaschen und die Bücher, die mir gefallen, immer wieder lesen. Aber ich glaube nicht, dass mich das wirklich glücklich machen würde, denn glücklich sein ist ein Zustand, kein Tun. Möglicherweise bin ich eher unglücklich als glücklich, weil ich glaube, dass ich womöglich langsam erblinde, aber das habe ich noch niemandem erzählt. Ich habe nicht viel Hoffnung für die Zukunft, denn wenn ich blind werde wie dieser höfliche Rechercheredakteur mit dem Teleskopstock, der vor Beginn der Dreharbeiten gekommen ist und mit mir geredet hat, dann ist das keine hoffnungsvolle Situation, und viele von den Dingen, die ich gern tue, sind dann nicht mehr so einfach oder sogar ganz unmöglich. Und es gibt vieles, was ich tun möchte, aber noch nicht getan habe, weil ich so damit beschäftigt bin, mich auf meine Abschlussprüfungen in der Schule vorzubereiten.
Die Teile des Dokumentarfilms, in denen ich rede und Fragen beantworte, sind inszeniert, das heißt, sie wurden vorbereitet und würden im normalen Leben nicht stattfinden, wenn die Filmemacher sie nicht geplant hätten. Der Rest des Films soll »spontan und unaufdringlich« sein, das heißt, die Filmleute folgen mir einfach, ich mache alles, was ich sonst auch mache, und sie mischen sich nicht ein. Aber natürlich ist es doch aufdringlich, weil ich normalerweise nicht von einem Kameramann, einem Regisseur, einem Beleuchter und einem Tontechniker verfolgt werde. Ich versuche sie zu ignorieren, aber das ist nicht einfach, weil sie laut sind und viel Platz brauchen. Deshalb muss ich mich ganz besonders anstrengen, dass ich keinen Wutanfall bekomme und Asif beunruhige, weil er sich große Sorgen macht, dass ich bei einem solchen Anfall gefilmt werde; er traut den Filmleuten nicht und befürchtet, dass sie es dann senden. Eins musste ich Asif versprechen: Wenn ich mich aufrege, ziehe ich mich an einen ruhigen Ort zurück, wo mich niemand stört, zum Beispiel in die Lehrer-Toilette, und dort setze ich mich hin, bis ich mich wieder beruhigt habe. Den ganzen Vormittag des ersten Drehtages war ich sehr aufgeregt und bin in der Lehrer-Toilette geblieben. Dort duftet es künstlich nach einem Vanille-Pfirsich-Raumdeo, und es gibt geprägtes rosa Klopapier, das viel weicher ist als das normale Papier in unseren Toiletten. Ich habe eine Doppelstunde Mathe versäumt, Geschichte und Deutsch. Und dann habe ich mich darüber aufgeregt, dass ich das alles verpasst habe, und bin auch über Mittag in der Toilette geblieben und habe den größten Teil des Stoffs nachgeholt. Vor Beginn der ersten Nachmittagsstunde hat die Schule bei Asif angerufen und die Filmleute gebeten zu gehen, weil sie mich störten. Ich bin am Nachmittag ganz normal in den Unterricht gegangen, und als Asif kam, war die ganze Aufregung schon vorbei, und die Scherereien, die er deswegen in der Firma bekommen hatte, waren ganz umsonst. Deshalb haben die Filmleute beschlossen, den unaufdringlichen Teil
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