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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
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noch unaufdringlicher zu machen und einfach in jedem meiner Klassenzimmer eine Kamera aufzustellen. Das hat mich dann überhaupt nicht mehr gestört.
     

     
    Es ist mir unangenehm, dass ich die Filmleute beim Beantworten ihrer Fragen belogen habe. Ich lüge nämlich nicht sehr oft. Und meine Welt erscheint mir deshalb nun nicht mehr ganz so stimmig.
    Bin ich glücklich?
    Habe ich Hoffnung für die Zukunft?
    Die Filmleute möchten gern von mir gezeigt bekommen, dass ich Gefühle genauso empfinde wie andere Menschen, aber ich bin nicht sicher, dass es so ist; ich glaube, dass meine Gefühle chemische, mit meinen logischen Denkprozessen verknüpfte Reaktionen sind, das heißt, meine Gefühle sind eine Funktion meines Intellekts. Wenn ein Neugeborenes schreit, dann nicht, weil es traurig ist, sondern weil es die Leute darauf hinweisen will, dass es da ist und gefüttert werden will, ein Bäuerchen machen muss oder frische Windeln braucht. Wenn ich mich einsam fühle, dann deshalb, weil ich weiß, dass es besser ist, nicht allein zu sein, weil ich vielleicht Hilfe brauche. Wenn ich umarmt werden will, dann deshalb, weil ich gewärmt und beschützt werden möchte; wenn ich nicht will, dass mich jemand anfasst, dann deshalb, weil ich nicht bedrängt oder verletzt werden will. Ich habe das Gefühl, wenn ich das sagen würde, wären die Filmleute von mir enttäuscht. Wenn ich über ihre Fragen nachdenke, über Glücklichsein und Hoffnung, dann sehe ich Rot mit orangenen Flecken. Und um mich zu beruhigen, denke ich an meinen Traum, in dem ich in meinem Zimmer herumfliege und mich sicher fühle.

Einer, der sich Gedanken macht
     
     
     

     

     
    Asif hat es aufgegeben, bei Lila anzurufen, und ist stattdessen Samstag früh gleich als Erstes zu ihrer Wohnung gegangen. Er ärgert sich, dass Lila ihn ignoriert, aber er selbst schafft es nicht, sie genauso zu ignorieren; deshalb riskiert er lieber Yasmins Wut, sollte er bei ihrer Rückkehr vom Schachclub noch nicht wieder zu Hause sein. Ungeduldig drückt er auf die Klingel; wenn er hört, dass mit Lila alles in Ordnung ist, wird er sich vielleicht gar nicht die Mühe machen hinaufzugehen. Aber die Sprechanlage bleibt stumm, Lila meldet sich nicht. Er weiß bereits, dass sie mit Wes Schluss gemacht und ihren Job hingeschmissen hat, deshalb kann er sich nicht vorstellen, dass sie so früh am Tag woanders sein könnte als zu Hause. Er läutet bei den Leuten im Erdgeschoss und bittet darum, ihn reinzulassen, weil Lilas Klingel angeblich nicht funktioniere. Was vielleicht sogar stimmt. Er steigt die knarzende Holztreppe bis in den zweiten Stock hinauf und klopft an Lilas Tür. Keine Reaktion. Er klopft wieder. Immer noch nichts. Er klopft mit mehr Nachdruck, versucht, nicht in Panik auszubrechen. »Lila«, ruft er zaghaft. Vielleicht hätte er schon früher kommen sollen, vielleicht liegt Lila in ihrer grauenhaft verdreckten Wohnung verletzt auf dem Fußboden und wehrt sich mit einem fleckigen Plastikkochlöffel gegen Nagetiere und Kakerlaken. Plötzlich dreht sich ihm fast der Magen um, solche Angst bekommt er um sie, und er ruft laut ihren Namen, egal, was die Nachbarn denken. Wieder steht ihm das Bild vor Augen, wie er einmal mit zwölf, dreizehn Jahren nach Hause in die Küche gekommen war und die Arbeitsplatte verschmiert war von Lilas Blut; da hatte sie sich die Pulsadern mit dem scharfkantigen Deckel einer Maisdose aufgeschnitten. Im Haus war niemand, der ihm hätte sagen können, was passiert war, aber noch bevor er die Notiz an der Kühlschranktür sah, wusste er, dass es Lilas Blut war. Das wusste er einfach. Von Mum oder Yasmin konnte es nicht sein, denn die waren unverwundbar, die bluteten nicht, die waren nicht so verletzlich wie er und Lila. Mum und Yasmin waren aus massivem Stahl. »Lila hatte einen Unfall. Bin mit ihr und Yas in der Klinik. Kümmere dich nicht um das Chaos. Ruf mich auf dem Handy an. Love, Mum.« Er nahm den Zettel vom Kühlschrank, und später, als Lilas Wunde genäht war und sie wieder zu Hause herummotzte, als Yasmin eine Medaille bekommen hatte, weil sie umgehend den Rettungsdienst gerufen hatte, während ihre nachlässige Babysitterin mit ihrem Freund im Auto herumgeknutscht hatte – als also alles wieder seinen normalen Gang ging, da zog er, wenn er im Bett lag, den Zettel hervor, strich ihn behutsam auf dem Kissen glatt und streichelte mit dem Daumen über die Stelle, wo Mum »Love« geschrieben hatte. Er wusste, es war nur eine Floskel,

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