Als ich lernte zu fliegen
Kollege, kümmerst dich mal besser um sie«, wendet er sich tadelnd an Henry. »Du kannst sie doch nicht in einem kaputten alten Schlafanzug rumlaufen lassen, mit Löchern wie ein Schweizer Käse! In dem Ding holt sie sich den Tod.«
Lila wickelt sich in den weiten Mantel, der sie in der Kälte mollig warm hält. »W ie Sie sehen, hatten Sie absolut recht«, sagt sie, als sie Henry zur U-Bahn führt. »Ich verlasse mich völlig auf mein Aussehen.«
Zwischen den Zeilen
Ich heiße Yasmin Murphy und verstehe zwar die Worte, die die Leute sagen, aber manchmal fällt es mir schwer zu verstehen, was die Leute wirklich meinen. Das, was man Subtext nennt oder »zwischen den Zeilen lesen«. Dieser Text wird nicht laut ausgesprochen, muss also erraten werden, trotzdem ist er irgendwie offensichtlich, weil ihn anscheinend jeder mühelos mitbekommt. Manchmal muss ich andere um Erklärungen bitten, als wäre ich in einem fremden Land und bräuchte einen Übersetzer. Ich habe viele meiner extremeren autistischen Gewohnheiten überwunden, zum Beispiel meine Wutanfälle, ich schlage in der Öffentlichkeit auch nicht mehr absichtlich mit dem Kopf irgendwo gegen. Aber wenn es darum geht, unausgesprochene Fragen zu verstehen, werde ich wohl immer eine Fremde bleiben. Wie l’étranger in dem Buch von Camus, das wir gerade lesen, obwohl l’étranger nicht nur Fremder, sondern auch Außenseiter heißen kann. Aber eigentlich fühle ich mich mehr als »Innenseiterin«, weil ich vor allem in meiner Innenwelt lebe, und empfinde alle anderen als Außenseiter, weil sie es nicht tun.
Die Subtexte zwischen den Zeilen erkläre ich mir gern als Dinge mit einem negativen Vorzeichen, die abwesend sind, aber doch zählen, als wären sie anwesend. Vielleicht könnte man sie noch besser als real, aber nicht sichtbar beschreiben, wie die unsichtbaren Kräfte in einer physikalischen Gleichung, bei der die Kraft G nach unten wirkt und die Kraft N nach oben. Werden diese Kräfte nicht berücksichtigt, dann stimmt das Ergebnis nicht. Wenn mir beim Filmen Fragen gestellt werden, dann muss ich die unsichtbaren Fragen verstehen, die dahinterstecken, sonst werde ich sie nicht richtig beantworten. Die Filmemacher haben mir gesagt, es gebe keine richtigen oder falschen Antworten; damit wollten sie mich beruhigen, aber dieser Gedanke löst in mir nur Panik aus, da fühle ich mich wie von einem starken Wind aus dem Gleichgewicht gebracht. Denn wenn es keine richtigen und falschen Antworten gibt, würde das bedeuten, dass NICHTS richtig oder falsch ist, dass nichts auf der Welt einen Sinn hat. Aber ich weiß, dass das von den Filmemachern nur so dahingeredet war. So wie man am Schluss einer E-Mail oder Postkarte »Herzliche Grüße« oder »Love« schreibt, auch wenn man das vielleicht gar nicht ernst meint, aber ohne solche Floskeln würde man den Empfänger eben vor den Kopf stoßen. Oder wie man sagt, die Chancen stehen eins zu einer Million – es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass dieses Zahlenverhältnis exakt zutrifft, das Ganze ist nur ein irreführender Ausdruck für »selten«. Oder wie man jemanden auffordert, er soll einen Zahn zulegen, wenn man es eilig hat. Früher habe ich solche Redensarten ganz wörtlich genommen und tue das im ersten Moment immer noch, habe aber inzwischen gelernt, mir zu sagen, »Das ist nur eine Redensart«, und über meine erste Reaktion hinauszudenken. Deshalb habe ich den Filmemachern ihr Gerede nicht geglaubt. Ich weiß, dass es richtige und falsche Antworten gibt, abhängig von der gestellten Frage.
Beim Filmen wurden mir viele Fragen gestellt. Ich sitze in einem Zimmer bei uns zu Hause und unterhalte mich mit einer Psychologin, was mir nicht weiter unangenehm ist, weil ich regelmäßig mit meiner eigenen Psychologin spreche; ich habe auch schon geübt, selbst zu filmen und vor einer Kamera zu reden. Aber manche dieser Fragen finde ich ziemlich schwierig zu beantworten, vor allem solche:
Was habe ich empfunden, als Mum gestorben ist?
Wer ist meine beste Freundin, mein bester Freund?
Wer war meine erste Liebe?
Bin ich glücklich?
Habe ich Hoffnung für die Zukunft?
Fragen dieser Art wären für einen neurotypischen Menschen sehr leicht zu beantworten; mir wurde erklärt, dass der Subtext all dieser Fragen ergründen will, inwieweit ein nicht-neurotypischer Mensch Gefühle empfinden kann wie ein neurotypischer. Sie wollen wissen, ob jemand wie ich so sein könnte wie sie. Hier meine
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