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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
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Schlafanzug, meine Liebe?«
    »Ja«, antwortet Lila und staunt selbst, wie wenig peinlich ihr das ist; fast ist sie stolz darauf, wie wenig Sorgfalt sie auf ihre Kleidung verschwendet hat, wie spontan sie beschlossen hat, aus dem Auto auszusteigen und die Straße entlangzugehen; zum ersten Mal seit Jahren lässt sie sich in der Öffentlichkeit in einem Aufzug blicken, den sie sonst nur in ihren eigenen vier Wänden trägt.
    »Du holst dir noch den Tod«, sagt der Wirt. »Du solltest besser auf sie aufpassen, Kollege«, wendet er sich ernst an Henry. »Sie wird sich den Tod holen, wenn sie so rumläuft.«
    »Haben Sie immer noch Ihren Pyjama an?«, fragt Henry, hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Missbilligung. »W arum haben Sie das nicht gesagt?«
    »Ach, ich fürchte, es hat sich nicht die passende Gelegenheit geboten.« Lila ahmt seine fast übertrieben korrekte Sprechweise so perfekt nach, dass er unwillkürlich lachen muss.
    »Aha«, sagt Henry dann und setzt bedauernd hinzu: »Ich sollte jetzt wohl zur Arbeit aufbrechen. Noch einmal danke, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben; es geht mir jetzt viel besser.«
    »Mir auch«, sagt Lila. »Ich bin jetzt richtig satt, meine ich«, fügt sie eine Spur zu schnell hinzu. Dann erkundigt sie sich neugierig: »Sollten Sie nicht längst bei der Arbeit sein?«
    »Das ist das Gute an einer handfesten Behinderung: Ich habe gleitende Arbeitszeit, und da weiß keiner so genau, wann ich da sein muss und wann nicht«, erklärt Henry lächelnd.
    »Sie Betrüger! Und ich habe Sie für den letzten ehrlichen Menschen beim Fernsehen gehalten!« Lila lacht. »Sie wollen mich also nicht mehr überreden, bei dem Dokumentarfilm mitzumachen?«
    »Nein«, sagt Henry. »Ich glaube, Sie haben Ihre Ansichten zu diesem Thema bereits deutlich genug zum Ausdruck gebracht.« Er geht zum Zahlen an die Kasse und fragt dann: »W as haben Sie denn den Rest der Woche vor?«
    »Jetzt, wo ich arbeitslos bin, nichts. Vielleicht kümmere ich mich darum, dass die Heizung repariert wird. Ich kann schließlich nicht die ganze Woche im Auto schlafen, ich glaube, meine Kfz-Steuer deckt das nicht ab«, sagt Lila und fügt dann provokant hinzu: »Und ich würde lieber STERBEN als zu Hause in Finchley auftauchen, vor allem jetzt, wo Yasmin Ferien hat und Ihr Filmteam ihr den ganzen Tag auf der Pelle hockt.«
    Henry schluckt auch diesen Köder nicht, sondern fragt nur: »Haben Sie vielleicht wieder mal Lust, sich mit mir zu treffen, auf einen Tee oder einen Toast oder sonst was?« Er fragt es beiläufig, scheinbar ohne Anzeichen von Nervosität, aber er umklammert seinen Stock so fest, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Er sieht zu Boden, ohne den Blick auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren, deshalb kneift er auch die Augen nicht zusammen, und Lila sieht seine feinen, nussbraunen Wimpern auf der winterblassen Haut.
    »W arum?«, fragt Lila misstrauisch und macht sich noch einmal klar, dass er ein konservativ gekleideter, komischer Vogel ist, obendrein blind wie ein Maulwurf, und in einem Dufflecoat daherkommt wie Paddington Bär.
    »W eil ich glaube, dass Sie vielleicht die interessanteste Frau sind, der ich je begegnet bin. Natürlich völlig übergeschnappt. Erstaunlich, Ihr Repertoire an Kraftausdrücken, der Aufzug, in dem Sie zum Frühstück erscheinen, die Wahl Ihres Schlafplatzes. Die Tischmanieren einfach grauenhaft. Aber Sie sind eindeutig hochinteressant«, sagt Henry.
    »Nun, wenn Sie es so ausdrücken …«, setzt Lila an. Eigentlich sollte sie beleidigt sein, fühlt sich aber stattdessen lächerlich geschmeichelt. Offenherzig fährt sie fort: »Nett, dass Sie das sagen, aber im Grunde bin ich gar nicht so interessant. Ich bin total oberflächlich – der größte Teil meiner Persönlichkeit steckt in meinen Haaren.«
    »Das glaube ich nicht«, widerspricht Henry. »Ich habe ja den Vorteil, dass Äußerlichkeiten mich nicht ablenken können.« Er macht eine Pause und stellt dann fest: »Sie haben nicht Ja gesagt.«
    »Ich habe aber auch nicht Nein gesagt«, erwidert Lila, steht auf und hält ihm den Arm hin, damit sie ihn zur Tür führen kann, als ihr der dicke, raubeinige Café-Besitzer besorgt nachruft: »He, Pyjama-Mädchen, so gehst du mir nicht auf die Straße! So kannst du dich doch nicht blicken lassen!« Und schon eilt er mit seinem eigenen voluminösen Mantel herbei und legt ihn Lila über die Schultern. »Bring ihn zurück, sobald es geht, ja? Und du,

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