Als ich lernte zu fliegen
Satzzeichen braucht. In einem lockeren Gespräch benutzt er Worte wie »peripatetisch« und wirkt dabei nicht einmal überheblich, als glaubte er wirklich, sie wüsste, was das bedeutet. Aber über seine Arbeit spricht er nicht, und Lila will auch nicht nachfragen. Also unterhalten sie sich stattdessen über alles andere. Sie findet seine Redseligkeit ansteckend und antwortet mit einer Sprachgewandtheit, die sie an sich gar nicht kennt, denn sie ist eher daran gewöhnt, knappe, witzige Gehässigkeiten oder spröde Nebenbemerkungen fallen zu lassen. Bei aller Redelust ist Henry dennoch ein großzügiger Gesprächspartner; er lässt Lila mindestens genauso viel reden, wie er selbst spricht, und ist ein aufmerksamer Zuhörer. Lila weiß nicht so recht, was sie von dem ganzen Gequatsche halten soll; es kommt ihr merkwürdig und wenig schmeichelhaft vor, dass jemand so viel mit ihr reden und so viel von ihr wissen will und dabei noch nicht einmal nach ihrer Hand gegriffen hat.
»W er war denn deine erste Liebe?«, erkundigt sich Henry, als sie aus dem National Film Theatre an der South Bank kommen; sie haben sich gerade im Rahmen der Zeffirelli-Reihe Romeo und Julia angesehen. Lila weiß nicht so recht, warum sie Henry immer noch trifft und inzwischen sogar duzt; in den letzten zwei Wochen hat sie ihn dreimal gesehen. Wahrscheinlich aus Mitleid, denkt sie. Andererseits findet sie es seltsam unwiderstehlich, wenn er sie anruft und Vorschläge macht, was sie unternehmen und wo sie hingehen könnten. Er ist ein so guter Planer, dass es ihr einfacher vorkommt, sein perfekt durchorganisiertes Programm mitzumachen, als Nein zu sagen. Sie hat ja auch sonst nichts zu tun. Zwar malt sie wieder, aber ohne Inspiration; es ist wie Wassertreten, sie trainiert nur ihre Hände, bis sie sie mit einer neuen Idee beschäftigen kann, und ihr neuester Job, Kellnern in dem Café am Ende ihrer Straße, ist angenehm anspruchslos.
»Das ist nicht schwer zu beantworten: Brad Pitt«, sagt Lila. »In den waren doch alle verknallt.«
»Ich meine, deine erste echte Liebe«, sagt Henry. »Ist der Tisch hier okay?« Er klopft auf einen leeren Stuhl im Filmcafé.
»Passt schon«, sagt Lila achselzuckend; sie bestellen zwei Tassen Kaffee und setzen sich. »Also, normalerweise fragst du die Leute nicht nach ihrer ersten Liebe …«
»Meinst du, ich frage nicht, oder im Allgemeinen fragt man nicht?«, hakt Henry ein.
»Lieber Himmel, du klingst wie Yasmin«, antwortet Lila. »Ich meinte, man fragt nicht. « Sie spricht die Worte übertrieben deutlich aus. » Man fragt normalerweise nicht nach der ersten Beziehung, die jemand hatte, sondern nach der letzten .«
»T ut mir leid, mir war nicht bewusst, dass ich so fürchterlich gegen die Dating-Etikette verstoßen habe«, entschuldigt sich Henry ohne jede Spur von Sarkasmus. Er wirkt so aufrichtig, dass Lila das Gefühl hat, sie sollte sich zum Ausgleich auch für irgendetwas entschuldigen.
»Das muss dir nicht leidtun«, sagt sie rasch. »Die Frage kommt mir nur ein bisschen seltsam vor, das ist alles. Aber wenn du’s unbedingt wissen willst: Meine erste Liebe war Fergus Stewart, da war ich knapp fünfzehn. Er war in der Schule eine Klasse über mir. Monatelang hab ich wahnsinnig für ihn geschwärmt, und zwei Wochen, bevor er für die Oberstufe an eine andere Schule wechselte, sind wir zusammengekommen.«
»W arum musste er für die Oberstufe die Schule wechseln?«, fragt Henry interessiert.
»Ach, unsere Schule war ziemlich scheiße«, erklärt Lila unbekümmert. »Echt unter aller Sau. Da kam sogar mal ein Bericht im Fernsehen, dass sie in unserem Viertel eine der Schulen mit der höchsten Durchfallquote war. Das war mein einziger Fernsehauftritt, als das Team der BBC zum Drehen vor den Schultoren aufkreuzte. Wahrscheinlich lohnte sich für unsere Schule einfach keine Oberstufe, weil so viele Schüler Idioten waren, die nach der Mittelstufe sowieso abgingen.«
»Zwei Teenager, wahnsinnig verliebt, zwei Wochen zusammen – und dann musste er fort. Eine traurige Geschichte, wie Romeo und Julia ohne Gift und Nebenhandlungen«, sinniert Henry mit einem leisen Lächeln, das er schnell wieder unterdrückt.
»Kein Grund zum Sarkasmus! Außerdem waren wir eigentlich nur zwei Tage zusammen. Wir haben ein paar Mal richtig heiß rumgefummelt, aber dann hat er etwas Verletzendes gesagt und ich hatte die Nase voll von ihm.« Lila verstummt bei der Erinnerung; sie weiß nicht, warum ihr das alles immer
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