Als ich lernte zu fliegen
mal, was passiert, wenn man jemand Gesunden in die Klapse steckt. Der muss nur lange genug drinbleiben, bis er selbst anfängt zu spinnen.«
»Die Diagnose wurde aber nun mal bei ihr gestellt«, sagte Asif matt. »So ist es eben.«
»W usstest du, dass das Asperger-Syndrom vor 1994 gar keine anerkannte Diagnose war? Früher hätte bei Yasmin diese Diagnose gar nicht gestellt werden können.«
»W ahrscheinlich hätten sie es eine abgeschwächte Form von Autismus genannt«, sagte Asif. »Irgendwas hätten sie sicher gefunden.«
»Das sind doch nur Worte, Asif«, rief Lila frustriert. »Asperger, Autismus – das sind nur Worte. Ich habe schon lange den Verdacht, dass Yasmin eigentlich gar nichts weiter hat außer dem Glück, ein phänomenales Gedächtnis zu haben. Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt unter den Wissenschaftlern genügend Typen, die genau solche Sonderlinge und Neurotiker sind wie sie …«
Asif wünschte, er könnte Lila zustimmen. »Ich weiß, es passt dir nicht, dass sie anders ist«, begann er.
»Du findest das wohl sogar noch gut!«, konterte Lila. »Du hättest gern, dass sie anders ist, weil sie dann nichts dafür kann. Dann kannst du alles auf Yasmins ›Krankheit‹ schieben. Dann braucht niemand zuzugeben, dass unsere kleine Schwester eine verdammte machtgierige Despotin ist.«
Hinter ihnen ertönte eine leise, monotone Stimme. »Redet ihr wieder über mich?«, fragte Yasmin.
»Hi Yas, ich dachte, du wärst in der Bibliothek«, sagte Asif und sah Lila warnend an; immerhin besaß sie so viel Anstand, etwas kleinlaut auszusehen.
»W ar ich auch, aber die Fenster stehen offen und ihr habt euch so laut unterhalten, dass ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Habt ihr über mich geredet? Ich dachte, ich hätte meinen Namen gehört.«
»Ja, haben wir, verdammt«, sagte Lila trotzig. Sie sah aus, als wäre sie gern noch viel mehr losgeworden, aber Yasmin interessierte sich nicht dafür, was Lila über die Bestätigung ihrer Frage hinaus zu sagen hatte. Yasmin blickte zu ihren Füßen hinunter und sprudelte in ihrer monotonen, hastigen Sprechweise los; die Worte verschwammen ineinander, Yasmin ließ sie herausströmen, so schnell sie konnte, wie Wasser aus einem voll aufgedrehten Hahn.
»Du benutzt beim Reden viel zu viele Schimpfwörter, Lila. Das wirklich schlimme ›Sch‹-Wort sagst du ziemlich oft, und ›verdammt‹ die ganze Zeit. ›Verdammen‹ bedeutete früher übrigens dasselbe wie ›verurteilen‹, nach lateinisch damnum , der Schaden. In der Theologie wurde das Wort dann für diejenigen gebraucht, die wegen ihrer Sünden von Gott verstoßen und zur Höllenstrafe verurteilt wurden; daraus entwickelte sich dann die Verwendung als allgemeines Fluch- und Schimpfwort.« Yasmin brach abrupt ab und drehte sich um, um wieder in die Bibliothek zu gehen.
»Das ist interessant, Yas«, sagte Asif. »W o hast du das gelesen?«
»Ich hab’s nicht gelesen, ich hab’s vor neunzehn Tagen um 15 . 37 Uhr im Radio gehört, in einer Wissenssendung über Etymologie-Wörterbücher«, sagte Yasmin, ohne sich umzudrehen.
Asif nahm das Gespräch mit Lila wieder auf. »Elf Jahre ist sie alt und kommt mit solchen Sachen an. Und du glaubst wirklich, sie würde uns absichtlich schikanieren.«
»Und du glaubst wirklich, sie tut das nicht?«, erwiderte Lila scharf. Sie sah interessiert hoch, als Fergus’ Freund herangeschlendert kam, und warf Asif einen so drohenden Blick zu, dass er unwillkürlich zurückwich. »Bis später, Asif«, sagte Lila äußerst bestimmt und nickte ihm zu als Zeichen, dass er ruhig verduften könne.
Beim Weggehen hörte Asif noch, wie Fergus’ Handlanger murmelte: »Okay, Lila. Es tut uns leid, was gerade passiert ist. Ich wollte bloß sagen, mein Kumpel steht auf dich.«
»Gut so«, sagte Lila erfreut. »Sag deinem Kumpel, er soll nach der Schule zur Pommesbude kommen. Er hat mich rumgekriegt.«
Unter der Haut
Lila ist brennend am Stand der Dreharbeiten von Yasmins Dokumentarfilm interessiert, möchte aber nicht, dass Asif das merkt. Als er bei ihr in der Wohnung war, hatte sie sich vorgenommen, Gleichgültigkeit vorzutäuschen, wenn er den Dokumentarfilm erwähnte, aber zu ihrem Ärger tat er es nicht. Henry, ihre »Art Date«, stellt sich als ebenso ärgerlich heraus; er redet viel, vielleicht mehr als jeder andere Mann, dem sie je begegnet ist, und das auch noch in bemerkenswert langen Sätzen; er redet so viel, dass er tatsächlich
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