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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
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Vor Angst hätte er sich fast in die Hosen gemacht, aber er hatte keine Wahl; wenn Lila in der Klemme steckte, musste er mutig sein. Er behielt sein Tempo bei, denn er wusste genau, wenn er langsamer wurde, würde er vielleicht seiner feigen Angst nachgeben.
    »He, lasst meine kleine Schwester in Ruhe!«, forderte er und hoffte nur, er trat energisch genug auf und niemand merkte, wie durchdringend und hoch seine Stimme plötzlich geworden war. Zu spät erkannte er, als Lila ihm das Gesicht zuwandte, dass sie mit den Jungs gelacht hatte, dass einer lässig den Arm um sie gelegt hatte.
    »Asif«, zischte Lila, rot vor Scham. »V erpiss dich!«
    »Oh, tut mir leid …«, begann er, erleichtert, dass er die Lage völlig missverstanden hatte, doch da verpasste ihm Fergus, der größere der beiden Jungs, einen beiläufigen Rempler.
    »Ja, verpiss dich, Aaarsch-if«, sagte er gedehnt und kostete die erniedrigende Aussprache des Namens voll aus.
    »Red nicht so mit ihm«, sagte Lila scharf.
    »W er bist du denn, seine Mutti?«, lachte Fergus und drückte ihre Taille. Er wandte sich wieder zu Asif. »Ich dachte, wir hätten dir gesagt, du sollst dich verpissen.«
    »Und ich habe dir gesagt, du sollst nicht so mit ihm reden«, sagte Lila und schüttelte ihn ab. »V erpiss dich selber.«
    »Schade«, sagte Fergus und musterte Lila von oben bis unten. »Und ich dachte, du wärst cool. Bist halt doch bloß so ’ne blöde kleine Tussi.« Lila stürmte davon und zog Asif hinter sich her. Erst vor der Bibliothekstreppe blieb sie stehen und setzte sich auf die Stufen.
    »V ielen Dank auch, Asif«, knurrte sie wütend. »Ich bin schon das ganze Jahr scharf auf Fergus.«
    »T ut mir echt leid«, sagte Asif. »Ich wollte dir nicht in die Quere kommen, ich hab dich nur gesehen und mir Sorgen gemacht.«
    »Ja, ich weiß«, sagte Lila; sie war immer noch sauer, aber irgendwie auch gerührt. Sie seufzte und sah zu ihrem Bruder, der ein paar Stufen unter ihr stehen geblieben war. Es war unmöglich, länger auf Asif wütend zu sein, er hatte immer nur so verdammt Gutes im Sinn. »Jetzt krieg ich ihn nie dazu, mit mir rumzumachen«, beschwerte sie sich bedauernd. »In zwei Wochen ist das Schuljahr vorbei.«
    »Der ist doch unter deinem Niveau«, meinte Asif. »Der ist saudumm, denkt mit den Fäusten und steckt andauernd in der Scheiße.«
    »Ich weiß schon, aber er sieht toll aus«, entgegnete Lila verträumt und konnte es sich nicht verkneifen, zu Fergus hinüberzuschielen. Asif bemerkte, dass auch Fergus einen Blick auf Lila riskiert hatte, sich aber hastig umdrehte und völlig desinteressiert tat.
    Asif sagte nichts; Lila war jetzt vierzehn und brauchte ihn wohl nicht, um ihre Ehre zu verteidigen. Im Herbst würde er für die Oberstufe auf eine andere Schule weiter unten an der Straße wechseln. Auch Yasmin würde die Schule verlassen, sie war zwar erst im letzten Jahr der Unterstufe, hatte aber ein Stipendium bei einer renommierten Privatschule bekommen. Asif fragte sich, wie Lila das aufnahm; vielleicht war sie eifersüchtig, vielleicht nur erleichtert, dass sie Yasmin nicht mehr zur Schule und wieder nach Hause begleiten musste. Er konnte Yasmin nicht auf dem Schulhof entdecken; normalerweise saß sie irgendwo allein mit einem Buch. Wahrscheinlich war sie in der Bibliothek oder im Computerraum.
    Plötzlich fing Lila an zu reden. »Hast du schon mal die Geschichte von dem Mädchen gehört, das sich für blind hielt? Es stellte sich heraus, dass sie nur einen zu großen Hut aufhatte. Und über das Mädchen, das sich für taub hielt? Die hatte nur vergessen, sich die Watte aus den Ohren zu nehmen. Und das Mädchen, das …«
    »Ja und? Kapier ich nicht«, unterbrach Asif.
    »Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass Yasmin eigentlich gar nichts fehlt? Dass sie nur einen zu großen Hut aufhat und Watte in den Ohren?«, fragte Lila.
    »Ich kapier’s immer noch nicht«, antwortete Asif, obwohl es ihm vielleicht dämmerte.
    »Yasmin hat, seit sie sechs war, von allen eingeredet gekriegt, sie wäre anders. Und deshalb ist sie auch anders behandelt worden. Mit ihr wird nicht geschimpft, wenn sie einen Wutausbruch hat, mit ihr wird nicht geschimpft, wenn sie nicht Bus fahren oder ihr Abendessen nicht essen will. Alles wird auf ihr Syndrom geschoben. Aber wenn Yasmin gar nicht anders ist? Wenn sich alle getäuscht haben? Wenn sie nur ein überspanntes, jähzorniges, unbeherrschtes kleines Arschloch ist, dem alle mehr nachsehen als gut ist? Überleg

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