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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
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durchschauen.
    »W er soll ich heute sein?«, fragt Lila den ausgewickelten Fleischklumpen im Spiegel. Das ist das Problem mit Henry; er kann nicht würdigen, was sie auf dem Leib trägt, deshalb hat sie kein bestimmtes Outfit für ihn, kein bestimmtes Image, das sie mithilfe von Klamotten bei ihm probetragen kann. Sie muss nicht die Karrierefrau auf hohen Hacken markieren, die aufbrausende Gothic-Braut oder das blumenschwenkende Hippiemädchen. Sie muss niemand Bestimmtes sein. Plötzlich ist sie unsicher, wer sie eigentlich ist; ihr kommt der Verdacht, in Wirklichkeit einfach jemand zu sein, der unbeobachtet gern zerrissene Pyjamas, T-Shirts mit Eisflecken und löchrige graue Unterwäsche trägt. Aber so könnte sie nicht aus dem Haus gehen – vielleicht bis zu ihrem Auto, aber auf keinen Fall bis zur malerischen Küste Kents. Nach einigem Zögern zieht sie eine Jeans heraus, die sie immer beim Malen trägt, deshalb ist sie vollgekleckst mit schrecklich schrillen Farben, dazu ein altes, verblichenes T-Shirt, das sie einmal in Chinatown gekauft hat; die beiden Druckfehler im Slogan Intevnational Love Around The Wovld sind in der welligen lila Schrift kaum zu erkennen, jagen Yasmin aber jedes Mal wieder einen Schauer über den Rücken. Lila schlüpft in ein Paar teure, unglaublich bequeme Stiefel aus ihren geschniegelten Zeiten als Popper-Girl mit Wesley, entdeckt aber am Absatz und an der Seite einen dunklen, schmierigen, undefinierbaren Fleck; das könnte alles Mögliche sein, Farbe, Teer, Hundekacke. Mum hatte schon recht, denkt sie, schöne Sachen sind an mir verschwendet. Sie zieht die Stiefel wieder aus, wirft sie beiseite und steigt in ein Paar abgetragener Sneaker. Wieder betrachtet sie sich im Spiegel. Sie ist nicht mehr sicher, wer diese Frau eigentlich ist, wie Millionen andere in Jeans und T-Shirt, dazu diese komische preiselbeerrote Frisur. Möglicherweise ist sie, zumindest heute, keine andere als sie selbst.
    Sorgfältig trägt sie im Gesicht eine matte Grundierung auf, die den Glanz der Pflegecreme dämpft, und auf die Lippen ein wenig Gloss. Dann setzt sie sich ins Auto und fährt nach Finchley, wo Asif schon auf sie wartet.
    »W as gibt’s?«, fragt sie nach dem Begrüßungsküsschen. »Ich kann nicht lange bleiben, ich muss mittags in Whitstable sein.«
    »W hit-was?«, fragt Asif, dessen geografische Kenntnisse nicht weit über den Londoner Autobahnring hinausreichen.
    »Spielt das eine Rolle?«, erwidert Lila etwas barsch, denn sie möchte nicht weiter darüber reden.
    »W ahrscheinlich nicht.« Asif verstummt, und plötzlich ist Lila entgegen aller Vernunft enttäuscht, dass er nicht wissen will, wohin sie fährt und mit wem sie sich trifft. Sie möchte, dass er sich Gedanken um sie macht wie letzte Woche, genauso wie er sich um Yasmin Gedanken macht. Sie möchte, dass sich irgendjemand auf der Welt ein bisschen dafür interessiert, was sie treibt, wenigstens ein bisschen neugierig ist. »Du siehst anders aus«, sagt Asif dann, tritt einen Schritt zurück und sieht sie genauer an.
    »Heißt das, hässlich? Normalerweise sagst du, ich sehe hübsch aus«, sagt Lila schnippisch.
    »Du weißt doch, dass du immer hübsch aussiehst. Nur dieses T-Shirt – das hast du seit Jahren nicht mehr angehabt. Du hast es oft getragen, bevor …« Asif weiß nicht, wie er den Satz beenden soll, es kommt ihm unpassend vor zu sagen, dass sie solche Sachen getragen hat, bevor Mum gestorben ist; bevor sie von der Schule abgegangen ist und immer wieder andere Leben in anderen Outfits ausprobiert hat. Er flüchtet sich in etwas noch viel Unpassenderes: »… bevor du ’nen Busen gekriegt hast«, flachst er schwach.
    Lila sieht ihn an. »Du meinst wohl, bevor du ’nen Busen gekriegt hast.« Mitleidlos stochert sie mit dem Finger in seinem Brustmuskel herum.
    »Aua!« Asif weicht zurück. »Das ist nicht fair, ich kann unmöglich fit bleiben, wenn ich den ganzen Tag im Büro auf dem Hintern sitze. Aber ich habe angefangen, mittags in den Fitnessraum zu gehen. Und vielleicht fange ich auch bald an, Tennis zu spielen.«
    »W arum Tennis?«, erkundigt sich Lila argwöhnisch. Mum hatte auch Tennis gespielt, mit Dad, und als er starb, spielte sie in einem Club in der Nähe weiter.
    »Deshalb habe ich dich hergebeten; ich möchte dir was zeigen. Eine Überraschung«, sagt Asif geheimnisvoll. »Können wir mit deinem Auto fahren? Meins macht seit Neuestem komische Geräusche, wenn ich in den dritten Gang

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