Als ich lernte zu fliegen
Sonnenfinsternis, aber die wird es in Großbritannien zeit meines Lebens nicht mehr geben. Mum hat mir beigebracht, mit Veränderungen zurechtzukommen, indem ich mich darauf vorbereite. Als kleines Mädchen habe ich mich auf die Nacht vorbereitet, indem ich meinen Schlafanzug anzog und vor dem Schlafengehen warme Milch trank. Als ich elf war, habe ich mich auf die Pubertät vorbereitet und bin mit Mum und Lila einkaufen gegangen, wenn sie BH s und Binden brauchten.
Und jetzt muss ich mich auf zwei Veränderungen vorbereiten: Ich muss mich auf die Tatsache vorbereiten, dass in wenigen Monaten ein Dokumentarfilm über mich im Fernsehen gesendet wird. Vielleicht werden mich die Leute auf der Straße erkennen und mir Fragen über mein Asperger-Syndrom stellen. Und ich muss mich darauf vorbereiten, dass ich vielleicht völlig blind werde. Ich habe im Internet recherchiert, dass ich die Stargardtsche Krankheit habe, eine unheilbare degenerative Erkrankung, die in der Adoleszenzzeit ausbricht. Wenn meine Sehkraft einmal erheblich eingeschränkt ist, kann ich viele Dinge nicht mehr tun, deshalb werde ich sie jetzt tun, solange ich noch in der Lage dazu bin. Mir macht die Ungewissheit zu schaffen, dass ich nicht weiß, wie viel Zeit mir noch genau bleibt, und deshalb habe ich einfach eine Zeitspanne von vier Monaten angesetzt, um meine Pläne zu verwirklichen. Ich hoffe, dass mein Sehvermögen mindestens so lange durchhält, weil ich einmal gefasste Pläne nicht gern umstoße.
Dies sind einige der Dinge, die ich machen möchte: Tennis spielen lernen wie Mum, alle Simpsons -Episoden ansehen, alle Filme mit Superhelden sehen, einschließlich gar nicht echter Superhelden wie Batman, und auch die Filme mit schlechten Kritiken, die gefloppt sind, Golf spielen lernen wie Dad, auf einen Rummelplatz gehen, das Meer sehen und Muscheln sammeln, die Berge sehen, das letzte Level von Doom erreichen, Zuckerwatte machen, mit einer Töpferscheibe töpfern, Brot backen, mit dem großen roten Touristenbus durch London fahren, St. Paul’s und das Parlament zeichnen, nach Frankreich fahren, nach Deutschland fahren, mit dem Flugzeug fliegen, mit einem Schiff fahren, mit einem Hubschrauber fliegen, eine Perücke tragen, Babysitter sein, ein Leben retten … Es gibt noch viel mehr, und die Liste ist nicht systematisch geordnet, die einzelnen Dinge wirbeln planlos um mich herum wie Elektronen um ein Neutron, manche kommen näher und werden wichtiger, andere entfernen sich, manche prallen mit anderen zusammen, schubsen sie weg oder verbinden sich mit ihnen zu etwas Neuem. Es ist, als wäre ich der Mittelpunkt vieler konzentrischer Kreise und die einzelnen Posten wären wie Punkte darauf verteilt, und dann formen die Kreise sich zu einer Kugel, und dann verändern sie wieder ihre Konstellation und werden zu etwas Vierdimensionalem ohne Oberfläche. Diese neue Form ähnelt ein wenig der Landschaft in meinem Kopf.
Asif hat mir versprochen, mir zu helfen, auch wenn er nicht weiß, warum ich das alles machen will, weil ich es ihm nicht erzählt habe; meine nachlassende Sehkraft ist für ihn ja größtenteils oder völlig irrelevant. Ich mache mir keine Sorgen, was passieren wird, wenn ich einmal blind bin. Auch dafür habe ich einen Plan.
Ich glaube nicht, dass man in diesem Fall von Lügen sprechen kann, denn beim Lügen fühle ich mich unwohl, aber wenn ich Asif nicht erzähle, dass ich blind werde, fühle ich mich nicht unwohl. Allenfalls ist es eine Lüge durch Verschweigen, was bedeutet, dass man jemandem etwas nicht mitteilt, was man weiß. Lügen durch Verschweigen werden manchmal auch als Geheimnisse bezeichnet, und Geheimnisse hat jeder. Meine ganze geistige Landschaft ist ein Geheimnis; wenn ich versuchen würde, sie jemandem zu erklären, würde das ewig dauern und wäre sehr anstrengend. Sogar Mum hatte ein Geheimnis, dabei hat sie immer auf Ehrlichkeit bestanden und uns eingeschärft, dass wir nie lügen dürfen, außer wenn unsere eigene Sicherheit gefährdet ist, denn Sicherheit ist wichtiger als Ehrlichkeit. Sie hat auch gesagt, es sei in Ordnung, den Lehrer anzulügen, wenn er mich zum Beispiel fragt: »Hältst du mich vielleicht für blöd?«, wie es einmal eine Assistenzlehrerin getan hat, eine gewisse Miss Mellon. Der habe ich die Wahrheit gesagt und Schwierigkeiten bekommen, aber Mum meinte, die meisten guten Lehrer würden solche Fragen sowieso nicht stellen, und als ich dann auf die Privatschule ging, kam so etwas nie
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