Als ich lernte zu fliegen
wieder vor.
Mums Geheimnis war, dass sie nachts im Badezimmer weinte, wenn sie glaubte, dass Asif, Lila und ich schliefen und nicht zuhörten, aber ich schlief immer sehr schlecht wegen des ganzen Geplappers in meinem Kopf, und wenn ich Mum nachts aufstehen hörte, bin ich zu meiner Tür geschlichen und habe sie durch den Spalt beobachtet, weil ich meine Tür nachts nicht gern ganz schließe. Einmal hat Mum meinen Schatten gesehen, als sie aus dem Bad kam, und sie ist stehen geblieben, hat mich einen Moment angestarrt und ausgesehen, als würde sie gleich wieder zu weinen beginnen, ihre Lippen haben schon ein bisschen gezittert, und sie hatte ihren roten Seidenpyjama an, bei dem das zweite Knopfloch von unten ausgefranst war, aber sie hat dann doch nicht geweint. Sie stand ganz gerade da und hat gesagt: »Husch ins Bett, Yasmin.« Dann ist sie zu mir gekommen und wollte mich bei der Hand nehmen, aber ich bin zurückgewichen, weil ihr Gesicht ganz nass und verquollen und salzig war. Deshalb ist sie ins Bad zurückgegangen, und ich habe gehört, wie sie ihr Gesicht gewaschen hat. Danach hat sie wieder hübsch und trocken ausgesehen und nach Lavendelseife geduftet, und ich habe mich von ihr an der Hand nehmen und ins Bett zurückbringen lassen, und sie hat gesungen: »Yasmin fährt fort ins Traumland, mit ihrem Federboot. Yasmin fährt fort ins Traumland, träumt bis zum Morgenrot.«
Als ich älter war, habe ich erkannt, dass es nicht normal ist, nachts allein zu weinen, aber da war sie schon tot und ich konnte sie nicht mehr fragen. Aber wahrscheinlich war es in Ordnung, weil sie es im Bad getan hat, und im Bad darf man vieles tun, was man in der Öffentlichkeit nicht tun darf, zum Beispiel kacken, pissen, furzen, sich den Kopf anschlagen, Sex haben, was bei Schwulen »auf die Klappe gehen« heißt, sich ritzen und sogar sich absichtlich übergeben. Das alles ist in Ordnung, solange andere Leute nicht sehen können, was man macht. Solange sie es nicht mitbekommen, regen sie sich nicht auf. Deshalb kann man Badezimmer auch immer abschließen.
Wolkenzauber
Lila steht nackt vor ihrem Spiegel und trägt eine Handvoll dicker, klebriger, unparfümierter Vaseline nach der anderen auf ihre frisch geschrubbte Haut auf. Die Creme hinterlässt weiße Spuren auf ihren Waden und ihrem Bauch; Lila reibt alles ein, bis sie im trüben Licht ihres feuchten Bads matt glänzt. Der Raum ist fensterlos, deshalb hat sie die Decke und die Wände in verschiedenen Schattierungen von Himmelblau gestrichen und mit hoch aufgetürmten Wolkenformationen bemalt, so realistisch, dass sie fast aussehen wie projizierte Fotos; wenn sie in der Wanne liegt, schließt sie halb die Augen, blickt zu ihren Kunstwolken hoch und stellt sich vor, dass sie wie echte Wolken durch den Raum ziehen, im Wind ineinanderfließen, sich auflösen und sich zu immer neuen, fantastischen Geschöpfen zusammenballen. Sie weiß, dass es nicht richtig ist, sich mit Kunstwolken zu vergnügen statt mit echten, und manchmal ist sie nahe dran, die trügerischen Bilder mit weißer Farbe zu überstreichen und in einer sauberen weißen Schachtel zu baden, wie in einer Gummizelle im Irrenhaus. Aber sie hat das Bad dann doch nie weiß gestrichen, denn dann könnte sie den Blick auf nichts anderes mehr richten als auf ihr glitschiges Selbst. Sie starrt sich an, kritisch, sogar abschätzig, wie ein Stück Fleisch, das zum Verkauf an einem Haken hängt; ihre Haut ist jetzt ein bisschen besser, weil das Wetter umgeschlagen ist, die trockene, kalte Luft und die ersten zaghaften Sonnenstrahlen kündigen endlich den Frühling an, und ihre Haut im Gesicht sieht ohne Make-up nicht mehr ganz so roh aus wie üblich, die dicke, glänzende Cremeschicht verleiht ihrem Teint den Anschein gesunder Glätte. Ihre Brüste sind immer noch straff, und sie fragt sich, wie lange es noch dauern wird, bis ihre Jugend vergeht – ein Popstar ihres Alters würde wahrscheinlich nicht mehr als jung, sondern nur noch als relativ jung bezeichnet werden. Ihre Schenkel bluten weder an den Innenseiten, noch sind sie verbunden; zwar hat sie zu ihrem Skalpell gegriffen, es dann aber doch halb bedauernd, halb erleichtert wieder weggelegt. Irgendwie kann sie sich an einem Tag, an dem sie Henry trifft, nicht ritzen. Obwohl er sie nicht sehen kann, hat sie das Gefühl, er würde es merken. Vielleicht gerade, weil er sie nicht sehen kann, denn er hat die beunruhigende Angewohnheit, sie zu
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