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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Jedes Mal, wenn er nun über die Türschwelle des Intermarché tritt, schlägt ihm diese verlorene Zeit, als der Tod im Galopp auf mich zueilte, jäh ins Gesicht. Er war in diesem Nirgendwo , anstatt bei mir. Im Supermarkt ist man kein Lebender unter den Lebenden, und erst recht nicht unter den bald Sterbenden. Er glaubt, ich hätte an jenem Samstag in meinem Fieberwahn nur darauf gewartet, dass er vom Einkauf zurückkommt – als ob ich in dem Moment nichts anderes zu tun gehabt hätte.
    Papa schiebt seinen Einkaufswagen vor sich her, beladen mit Pizzas, Coca-Cola, Sandwiches und anderem Müll, den ich nie verzehren werde – und doch war alles, was er einpackte, ausschließlich für mich. Noch geht er davon aus, ein gemeines, Beklemmungen auslösendes Fieber würde mich seit gestern Abend ans Bett fesseln, und er schiebt seine blöde Karre weiter an zig Werbeslogans vorbei. Meistens teilen sich Mama und Papa die Aufgaben: Papa ist zuständig für den Markt, Waschpulver, Wasser, Tiefkühlgemüse, Milchprodukte und so weiter. Mama kocht. Hin und wieder tauschen sie die Rollen. An jenem Morgen nicht. Pech für Papa, Glück für mich: Mama sollte sich sehr fürsorglich um mich kümmern, mehr, als sie es je getan hat. Ich habe Fieber, ihr Baby braucht sie. Als er die Einzelheiten erfährt, staunt Papa über die Effizienz, mit der Mama diese unglaublichen Stunden ausgefüllt hat. Und neidisch ist er auch.
    Mama macht sich große Sorgen, wie immer, wenn ihr Sohn Fieber hat. Sie redet sich Mut zu, sagt sich, dass sie jetzt nicht den Kopf verlieren darf, dass sie seit einundzwanzig Jahren, die es mich gibt, bestimmt hundertfünfzigmal wegen nichts fast den Kopf verloren hätte. Trotzdem geht es ihr schlecht. Sie beherrscht sich, verbirgt ihre Angst vor mir und telefoniert mit Freunden. »Lion hat hohes Fieber, ja, ich weiß, momentan ist die Grippe im Umlauf.« Sie ruft den Bereitschaftsarzt an – aber niemand antwortet, kein extra Arzt, der samstagvormittags in Douarnenez Notfalldienst hat –, sie wählt die Nummer eines Arztes vor Ort, dessen Name ihr gerade einfällt – der eine, den sie endlich erreicht, braucht Stunden, bis er kommt, zu spät –, sie richtet einen Notruf an den Rettungsdienst, der anderes zu tun hat, als ein Fieber zu behandeln, und sie auf ihren Hausarzt verweist – aber der ist nicht da. Sie dreht sich im Kreis. Ich gestehe Mama, dass ich mich ganz und gar nicht gut fühle. Es ist 11 Uhr 30. Die Panik steigt.
    Um mich nicht zu beunruhigen, greift sie heimlich zu ihrem Handy und ruft Papa an. Mein Fieber ist sehr hoch – einundvierzig Grad –, Papa soll umgehend in der Apotheke fiebersenkende Medikamente besorgen. Papa unterbricht den Einkauf und stellt sich vor der Apotheke in die Schlange. Er hat gerade das Aspirin bezahlt, als Mama noch einmal anruft: Gute Freunde hätten ihr geraten, auch homöopathische Mittel zu nehmen. Angeblich hochwirksam gegen Fieber und Grippe, die auch deren zwei Söhne gerade hinter sich hätten. Trotz seiner totalen Verachtung dieser Homoöpathien und Homöopathen geht Papa noch einmal in die Apotheke – die Vorurteile hat er seiner Mutter zu verdanken, die sich mit voller Begeisterung und seit jeher sämtlichen Varianten medizinischen Aberglaubens verschrieben hat, wofür sein Vater bloß Spott und Hohn empfand, der auf all die Scharlatane, die sie aufsuchte, mit Skepsis und Eifersucht reagierte. Diesen Morgen macht Papa ohne Murren kehrt: Noch einmal stellt er sich vor der Apotheke an, leider sind nicht alle homöopathischen Tabletten vorrätig, sie müssten bestellt werden, er winkt nicht ab, sondern willigt ein. Dann jedoch, von der Vernunft getrieben, fährt er zum Supermarkt zurück, um den restlichen Einkauf zu erledigen. Denn was die Homöopathie betrifft, stützt er sich auf Billigargumente vom Typ: Heilung durch Scharlatanerie gleich eingebildete Krankheit. Aber da erreicht ihn erneut ein Anruf von Mama. Es ist nach Mittag, das Handy hat schlechten Empfang, die Stimme klingt abgehackt, entweder die Strahlen oder der Stress. Papa läuft im Eilschritt durch die Gänge. In der Tiefkühlabteilung ist der Empfang besser. Es wird auf einmal ziemlich kalt. Mama sagt, die Sache habe eine höchst bedrohliche Wendung genommen. Auf meinem Arm sind schwarze Flecken aufgetaucht, der Rettungsdienst hat endlich eingesehen zu kommen. Sie braucht ihn dringend. Papa rennt zur Kasse, fragt, ob er vordarf, sechs Personen treten in der Schlange zurück, er zahlt. Seine EC

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