Als ich meine Eltern verließ - Roman
Ideen mit dem Leben nichts zu tun«. Papa ist der Ansicht, dass sich viele Kommentatoren, Direktoren, Beamte und selbst Künstler verhalten, als ob Kunst, Theater, Musik, Malerei nicht sonderlich viel mit dem Leben zu tun hätten. Wahrscheinlich ist das auch ihr größter Wunsch, eine Welt für sich. Davon ist Papa geradezu überzeugt, nachdem in den letzten dreißig Jahren der Formalismus, Konzeptualismus, Strukturalismus, die Postmoderne und alle anderen »Ismen« je nach Mode ihre Blütezeit erlebt haben. Alles, was Einfluss hat, drückt den anderen seine Meinung auf, sodass es in Frankreich seit den Siebzigern anscheinend verboten ist, Geschichten zu erzählen. Papa wettert gegen die Sektierer. »Aber Gott sei Dank, Gott sei Dank gibt es noch Genies, denen nichts etwas anhaben kann.« Er versucht, nicht zu verbohrt zu klingen, wenn er wieder von seinem Lieblingsthema anfängt. Aber es gelingt ihm nicht. Sie nerven ihn, diese Künstler, die nur mit Künstlern sprechen, und diese Philosophievorlesungen, in denen es ausschließlich um die Geschichte des Denkens und um brillante – oder dämliche – intellektuelle Herausforderungen geht, meilenweit von uns entfernt. »Philosophie ist eine Lebensweise.« Papa zieht über die Welt der reinen Formen und der richtigen Anschauungen her.
Papa hat einen Ohrhörer, ich nicht. Das Telefon wird langsam heiß.
Papa hat geahnt, dass ich mit meinen Seminaren an der Uni nicht gut zurechtkomme. Möglicherweise komme ich auch mit meinem Liebesleben nicht zurecht. Durchaus möglich in meinem Alter. Er lässt die Anschauungen fallen und erzählt aus seinem eigenen Leben. Das Telefon, wenn auch glühend heiß, hilft uns, die richtige Distanz zu wahren. Nach dem Vorgeplänkel über Fußball, Musik und Philosophie der Philosophie spricht Papa endlich über sich, über sein Liebesleben und seine Höhen und Tiefen. Um mir diskret zwischen den Zeilen zu sagen, dass auch mein Leben seine Höhen und Tiefen haben wird, die man nehmen muss, wie sie kommen. Dafür benutzt er Metaphern, man müsse einen Schritt durch die Pforte gehen, eine enge Pforte. Das hatte ich schon mal gehört; die Formulierung hat er bei André Gide aufgeschnappt, als er in meinem Alter war – ich dagegen habe in der Schule bloß eine Zusammenfassung über Gide gelesen. Eine enge Pforte zu durchschreiten tut weh. Man glaubt, man schafft es nicht, aber wenn man durchkommt, ist man tierisch weit gekommen. Tierisch, genau das Wort hat er benutzt.
An diesem letzten Montagabend meines Lebens ermuntere ich Papa, sich weiter so mit mir zu unterhalten. Ich habe keine Angst. Es ist ungewohnt für uns. »Erzähl ruhig weiter, Papa.« Er ist gerührt, fast erstaunt, dass ich so offen und aufmerksam bin. Ein kribbelndes Glücksgefühl. Nächste Woche wird er einen Schreck bekommen, im Nachhinein, wenn ich tot bin. Der Jugendliche in mir hat dem herannahenden Erwachsenen nachgegeben. Ein ethisch-theoretisches Zwiegespräch mit seinem Sohn. Welchen Papa würde das nicht zutiefst anrühren? Papa genießt es. Ich auch. Er liegt wie gewohnt auf seinen drei übereinandergestopften Kissen im Bett, während ich mich in zweihundertfünfzig Kilometern Entfernung auf meinem Bett herumfläze. Wir sind füreinander da. Das Telefongespräch wird gute anderthalb Stunden dauern. Das gibt eine gesalzene Rechnung, aber Papa zahlt, und der pfeift drauf bei dem Preis-Leistungs-Verhältnis.
In weniger als fünf Tagen werde ich tot sein. Das wissen wir natürlich nicht. Aber vom Moment meines Todes an wird Papa fast wahnsinnig bei dem Gedanken, ich könnte eventuell irgendetwas an dem Montag am Telefon geahnt haben. Ich war dermaßen aufgeschlossen, dermaßen offen für alles, hatte ich mich da nicht bereits der anderen Seite des Flusses genähert? Selbstverständlich nicht bewusst. Aber hatte ich nicht doch irgendetwas in mir, ein Stückchen von diesem Etwas , ein Molekül, eine Mikrobe, eine Zelle, ein winziges Teil an der Grenze vom Körperlichen zum Immateriellen, das wusste, dass der Tod bereits in mir zugange war?
Nichts und niemand bereitete sich auf den Kampf vor, weder ihn noch mich. Absoluter Frieden während einer innigen Unterhaltung am Montagabend, es lebe die Telefongesellschaft. Und der unsichtbare, reißende Fluss des Todes. Es lebe nichts.
Vier Tage später, Freitag, 24. Oktober, Mitternacht. »Hilf mir, mein Sohn, hilf mir!« Papa sitzt auf dem Bettrand und windet sich. Er hat starke Rückenschmerzen wie häufig. Und das ist
Weitere Kostenlose Bücher