Als ich meine Eltern verließ - Roman
-Karte funktioniert nicht, falsche Geheimzahl. Noch einmal. Wieder falsch. Papa überlegt, den Wagen einfach stehen zu lassen. Er rastet innerlich aus. Warum diese schwarzen Flecken auf meinem Arm? Er denkt sofort an Drogen und verstrickt sich in Hirngespinste: Bestimmt hatte ich dieses Zeug geschluckt, diese Pilze, von denen man Halluzinationen bekommt! Die Zahlen verschwimmen. Risiko. Da es mit der Geheimzahl nicht klappt, nimmt er die Karte vom Theater – grober Verstoß, Veruntreuung von Geschäftskapital, Pech, auch egal, wird er später zurückzahlen, nur nicht vergessen, es ist zu wichtig –, er tippt vier Ziffern ein, die Geheimzahl stimmt, Gott sei Dank. Schnell den Kofferraum beladen, losfahren, die Rue Jean Jaurès entlang, wie der Blitz vorbei am Friedhof von Ploaré, am Meer, beim Tod, wo ich ab nächste Woche wohnen werde.
Endlich zu Hause angekommen, nimmt er vier Stufen auf einmal die Treppe hinauf in mein Zimmer. Von Mama erfährt er, dass der Rettungsdienst jeden Augenblick kommen muss. Sie flüstert, um mich nicht zu beunruhigen. Er tritt ans Bett. Ich lächle ihn an. Er nimmt meine Hand. Obwohl ich mich schlapp fühle, gelingt es mir, ihn sorglos anzuschauen und zu begrüßen. Das beruhigt ihn ein wenig. Mama bittet ihn, sich zu beeilen: Der Krankenwagen und eine Trage würden bald hier sein. Alles muss vorbereitet sein, wenn der Rettungsdienst kommt, Stühle, Tische, Möbelstücke, die den Weg der Sanitäter versperren könnten, müssen aus dem Weg. Schade. Papa muss meine Hand loslassen. Er stürzt die Treppe hinunter, parkt das Auto, leert den Kofferraum und verstaut den Einkauf in Kühl- und Gefrierschrank. Er glaubt, alles für heute Abend vorzubereiten, für die Rückkehr des aufgepäppelten Sohns aus dem Krankenhaus, auf dem Weg der Besserung und mit einem Bärenhunger – er glaubt es noch immer. Zehn Minuten nicht in meiner Nähe. Drei Minuten, um das Auto umzuparken, damit sich der Krankenwagen genau vor die Haustür stellen kann. Papa kommt wieder, rollt hastig einen Teppich ein, über den die Krankenträger stolpern könnten. Vom aufwirbelnden Staub muss er niesen. Er sucht nach einem Taschentuch. Eine halbe Minute. Er schafft im Eingangsbereich alle Stühle weg, reißt sämtliche Türen auf, macht es auf der Treppe so hell wie möglich und hievt zwei Kartons mit Partituren zur Seite. Zwei Minuten. Papa bereitet die Zukunft vor, er schuftet für die Zeit nach meiner Genesung. Alles in allem eine gute Viertelstunde, in der Papa nicht da ist. Er ist nicht bei mir, ist woanders wie alle Männer, immer haben sie schon wieder etwas anderes im Kopf als den Moment, in dem ich sterbe.
Er rennt wieder hoch in mein Zimmer, fasst meine Hand, streichelt über mein rechtes Bein. Auf meinem Oberschenkel ist gerade ein schwarzer Punkt aufgetaucht. Es ist der erste, den er auf meinem Körper sieht. Stopp. Er ist starr vor Schreck, ein unbekanntes Symptom. Es ist ernst , denkt er im Stillen. Auf der Straße eine Sirene, der Rettungswagen kommt. Er geht wieder weg, rennt hinunter, die Tür öffnen. Der Arzt kommt herauf, eine Frau in weißem Kittel. Sie schaut sich meinen Zustand an, nicht länger als dreißig Sekunden, und hat sofort begriffen. Sie nimmt Papa zur Seite und sagt leise: »Es ist ernst, sehr ernst.« Ein Schlag ins Gesicht. Dieses Mal haben es nicht er oder Mama gesagt: Dieses Mal wird es ihnen gesagt. Seitens der Ärztin sichtliche Unruhe, Panik. Auf ihre Anordnung hin ziehen die Sanitäter Mundschutz und Handschuhe über. Ein Atomkrieg ist ausgebrochen.
Montag war es wie im Paradies zwischen uns. Gestern Abend wurde es besorgniserregend. Jetzt: die absolute Katastrophe. Papa legt sich zu mir und beugt sich über mich. Und während er immer wieder über mein Bein streichelt, flüstert er: »Du musst kämpfen, mein Sohn. Kämpfen.«
Fünf Tage vorher, am Montag, den 20. Oktober, lief im Fernsehen ein Fußballspiel. Es war uns ein guter Vorwand, um noch bis spät in die Nacht miteinander zu telefonieren, er in Douarnenez, ich in Rennes, so ausgelassen und heiter wie selten. Anfangs unterhalten wir uns über das Spiel, großartiger englischer Spitzenfußball. Aber schon bald wendet sich unser Gespräch unwillkürlich Wichtigerem zu. Papa erzählt mir vom Leben, von der Philosophie und wie beides zusammenhängt, Zusammenhänge, die in den Lehrbüchern meist nicht hergestellt werden, eigentlich gar nicht, meint er – »und das wahrscheinlich absichtlich, als hätten philosophische
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