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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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nicht alles. Vorhin ist ihm der Kofferraumdeckel auf den Kopf geknallt, während er die Sachen aus dem Lebensmittelgeschäft auslud, wo er kurz reingesprungen war – der Großeinkauf wird ja morgen Vormittag erledigt. Eine hübsche Beule. Außerdem hat er Kopfschmerzen. Er ist sauer, ärgert sich, dass er eine abgekriegt hat, zumal es auch noch wehtut. Mein Schweigen macht ihn nervös. Schlechte Stimmung. Mein Unwohlsein hat sich im ganzen Zimmer ausgebreitet.
    »Sag mir, wie ich dir helfen soll! Vielleicht bringt es dir was, wenn du über das sprichst, was dich quält …«
    Ich murre ein Nein. Er fängt trotzdem an. Ich bitte ihn, es sein zu lassen:
    »Später, morgen, nicht heute. Wenn ich denke, dreht sich alles.«
    Papa lässt es sein. Die aufgeschlossene Atmosphäre von letzten Montag ist meilenweit entfernt. »Dreht sich alles«, »morgen«, »später«: Meine Worte bestätigen ihn in seiner blöden Befürchtung, meine seelische Verfassung wäre am Nullpunkt. Er malt sich aus, ich würde momentan meine Freundin verlassen oder vielmehr sie mich und dass ich ihm nichts davon erzählen will, eine so schöne Liebesgeschichte, die in die Brüche geht. Kann passieren, das ist ihre Sache . Er schweigt.
    Papas früherer Therapeut gibt sich schwerfällig. Er überlegt hin und her. Um auf den Weg der Besserung zu kommen, wäre es seiner Meinung nach am besten, wenn ich mich mal ordentlich ausheulte und vor allen Dingen ausspräche, anstatt mir hohes Fieber einzufangen, Gliederschmerzen und diesen ganzen somatischen Schnickschnack. Heiliges Wort der Psychologen. Papa versteht rein gar nichts, ich auch nicht. Ich ringe mit dem Tod, er interpretiert, ich bin verloren.
    Ich muss mich übergeben. Zurück von der Toilette, will ich immer noch nicht reden. Er verzichtet auf jeglichen Kommentar und setzt sich neben mich aufs Bett. Streichelt meinen Kopf. Mein Atem ist laut und schwer und sehr schnell. Verstohlen sucht er meinen Puls. Da er ihn am Handgelenk nicht findet, misst er ihn am Hals, ohne es mir zu sagen. Wie eine weitere Liebkosung, um mich nicht zu beunruhigen. Trotzdem muss er nach ihm tasten, er verringert und erhöht abwechselnd den Druck seiner Finger, sucht so lang, bis er ihn endlich hat, er tut mir weh, nicht sehr, doch ich murre. Ungefähr einhundertvierzig Schläge pro Minute, für eine Marseillaise zu schnell – dafür muss das Metronom auf einhundertzwanzig pro Minute stehen. Papa glaubt, ich hätte Herzrasen bekommen wie Mama manchmal. Kein Wunder, dass ich so laut keuche. Endlich ein paar Hinweise: Obwohl er schnell ist, bleibt mein Puls regelmäßig, ich versichere, dass ich absolut keine Schmerzen in der Brust habe, auch keine Kopfschmerzen. Seiner stümperhaften Logik folgend schließt Doktor Papa einen Herz- oder Hirninfarkt aus. Er wüsste nicht, warum es sich um etwas anderes handeln sollte als um eine Lebenskrise oder eine Grippe.
    »Wo tut es dir weh?«
    Mürrisch weigere ich mich, auf seine Fragen zu antworten, fange an zu nörgeln, sobald er es mit irgendetwas probiert. Die Idee, den Notarzt zu rufen, passt mir nicht. Allein sein möchte ich allerdings auch nicht. Wenigstens das lasse ich durchblicken. Erleichtert bleibt Papa sitzen. Berührung.
    Seit meiner Geburt hat er sich bei Grippe, Ohrenentzündung oder Magen-Darm-Beschwerden abends neben seinen kleinen Jungen gelegt und kein Auge zugetan. Er hielt Wache. Das gefiel mir. Tagsüber war Mama an der Reihe. Auch das gefiel mir. Und heute Abend, obwohl ich einundzwanzig und absolut kein Baby mehr bin, die gleiche gewohnte, stillschweigende Aufteilung familiärer Aufgaben. Er wird Wache halten. Nach dem Aufwachen wird Mama ihn ablösen, und Papa wird einkaufen fahren, während Mama auf den Arzt wartet, den sie letztendlich gerufen haben. Aber morgen ist alles anders, ich werde sterben. Auf ewig werden sie sich diese letzten zwölf Stunden immer wieder durch den Kopf gehen lassen, wie er meine Hand in jener Nacht hält, wie sie herumtelefoniert, wie sie beide schwanken zwischen ihrem Glauben an eine banale Grippe durch die viele Kifferei und ihren immerwährenden elterlichen Sorgen.
    Es ist also der letzte gemeinsame Abend, ohne dass wir es wissen. Papa macht es sich in dem blöden quietschenden Bett so bequem wie möglich neben mir. Sanft streichelt er über meinen Kopf. Er bietet mir an, neben mir zu schlafen, wie damals, als ich klein war. Ich lehne ab. Und er belässt es dabei. Das wird er bereuen. Hätte er nicht so schnell klein

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