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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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seiner derzeitigen Obsession, beschäftigt ist. Die Ärztin will damit lediglich meine Antworten überprüfen. Ich bin bei Bewusstsein, bei völlig klarem Verstand, ich habe geantwortet, wie es sich gehört. Ich bin dermaßen bei Bewusstsein, dass ich Papa in seinem Wahn verkehrt antworten höre, indem er die Zahlen vertauscht. Papa hat sich vertan, er ist es, der hier wirr im Kopf ist! Er sagt, ich sei am 21. April 1982 geboren, anstatt richtigerweise zu sagen, so wie ich, dass ich einundzwanzig Jahre alt und am 19. April 1982 geboren bin. Sie notiert. Für sie stimmen unsere Antworten überein, so gut wie, klinisch gesehen ist das ein gutes Zeichen: Ich bin bei Bewusstsein.
    Aber in den Augen von Papa bedeutet dieses So-gut-wie eine Katastrophe. Verärgert über seinen Fehler sagt er hastig: »Nein, ich wollte einundzwanzig Jahre sagen, nicht 21. April, er ist am 19. April geboren, nicht am 21. …«
    Aber die Ärztin ist längst woanders, sie telefoniert mit der Notaufnahme des Krankenhauses, um meine Ankunft in Quimper vorzubereiten; sie erstattet Bericht, »der Patient ist bei Bewusstsein« usw. Ihr Problem ist nicht dieser kleine Versprecher.
    Papa ist völlig außer sich bei der Vorstellung, ich könnte gemerkt haben, dass er sich mit meinem Geburtstag vertun kann, einem Datum, das durch mich heilig geworden ist – gewiss mit nicht unerheblicher elterlicher Hilfe. 19. April 1982, 17 Uhr 17: Auf die Minute genau war meine Geburt der wichtigste Moment in seinem Leben als Mensch. Ungeahnte Tränen, der Freude natürlich, und vor allem vollkommene Ergriffenheit beim Anblick des Lebens.
    Bald wird Papa den zweiten wichtigsten Moment seines Lebens erleben, in drei Stunden, meinen Tod.
    Ich hatte den Versprecher gehört. Unter Schmerzen gelingt es Papa endlich, den Schrank in die Ecke zu schieben, im Kreuz die Schmach des Lapsus, gleichsam ein Versagen in der Liebe, eine selbst zugeführte Wunde, 21 statt 19.
    Die Feuerwehrleute hieven mich auf die Trage. Zu sechst stehen sie mit ihren dicken Stiefeln auf dem Bettgestell, das knarrt und quietscht, aber entgegen allen Erwartungen hält. – Seit Jahren hatten wir überlegt, es zu entsorgen. Am Tag nach meinem Tod werden Mama und Papa es endlich tun, sie werfen das Bett weg, das ihnen gehörte, bevor ich es bekam, ein Bett der Lust und Explosionen. – Während die Feuerwehrmänner mit der Trage vorsichtig die Treppe hinuntersteigen, zwickt mich Papa kurz in den linken großen Zeh – das ist alles, was er in der Eile zu fassen bekommt.
    »Bis gleich, mein lieber Junge. Halt dich tapfer.«
    Langsam hebe ich die rechte Hand, eine beschwichtigende Geste, ein leises Lächeln. Es ist die letzte klare Botschaft, die er von mir in Erinnerung behalten wird, mein Lächeln. Gar nicht übel.
    Unten auf der Straße steigt er nicht mit in den Krankenwagen. Er hört auf die Sanitäterin, das ist nicht sein Gebiet. Die Medizin hat mich in Beschlag genommen. Warum hat er auf sie gehört? Alles, was er sich herausnimmt, ist, sich zu mir hinüberzubeugen und wenigstens mein Bein zu streicheln. Vorletzte Berührung: ein Bein und eine Hand, mehr schaffen wir nicht. Die Sanitäterin schirmt ab.
    Immer wieder wird Papa diese unzähligen Minuten gedanklich durchspielen, die er wartend am Fuße des Krankenwagens vergeudet hat, anstatt hier zu sein, im Bett, im Zimmer, im Krankenwagen, bei mir, bei ihm. Ebenso die Zeit im Supermarkt, beim Einparken, beim Aufräumen von Flur, Treppe und Zimmer. Was war nur mit dir, Michel, dass du dich in vorauseilendem Eifer darum gesorgt hast, noch alles Mögliche zu erledigen, anstatt um ihn? Der wahre Moment bedeutete einfach nur, da zu sein, mehr nicht.
    Langsame Fahrt durch die Cornouaille. Der Krankenwagen macht tatütata. Hinter dem roten Kastenwagen das auberginefarbene Auto von Mama und Papa, die sichtlich nervös werden. Zwanzig endlose Kilometer kleben sie hinten dran.
    Er hat sich das amtliche Kennzeichen, dem er blind auf der Landstraße gefolgt ist, nicht notiert. Aber jedes Mal, wenn er später »meinen« Krankenwagen sieht, würde Papa am liebsten einsteigen und mit eigenen Augen all das anschauen, was ich in dieser halben Stunde zuletzt gesehen haben. Er sollte sogar über das Blech streicheln, als der Krankenwagen in der Rue de Douarnenez steht, dieses Mal ohne Blaulicht. Auch die Reliquie auf Rädern bringt ihn zum Weinen.
    Ankunft im Krankenhaus, Notaufnahme; man zieht mich aus dem Krankenwagen. Papa wendet sich mir noch einmal zu,

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