Als ich meine Eltern verließ - Roman
beigegeben, hätte ich vielleicht Ja gesagt. Das hätte zwar nichts geändert, aber ihm wäre die letzte Nacht neben dem heißen Körper seines Sohns zusätzlich bittersüß in Erinnerung geblieben. Wie ein erfülltes Pflichtglück. So wird sich Papa zeitlebens schmerzlich an den Moment erinnern, als er sich todmüde und von Kopfschmerzen geplagt einen Schritt von meinem Bett entfernte und mit unterdrückter lauter Stimme in die Stille hineinmotzte: Verdammt noch mal, du musst mir schon ein bisschen helfen, mein Sohn, sag mir, was ich für dich tun soll. Er hatte die Nase voll von meinen stummen, widersprüchlichen Appellen. Heute sind es Schuldgefühle. Leise murrte er Sätze vor sich hin wie: Wenn er doch nur nicht so wäre wie ich, wenn er bloß Worte für seinen Kummer und sein Leid finden könnte, anstatt sich in somatischen Rätseln auszudrücken . Im Grunde alles Groll gegen sich selbst. Doch dann die Kehrtwende um hundertachtzig Grad: Papa hört auf zu meckern und sieht mich an. Sanftmütig. Er setzt sich auf den Bettrand, streichelt meine Hand und mein Bein. Nein, kein Groll, er muss mich nehmen, wie ich bin, jeder leidet auf seine Art, es gibt an meinen Symptomen nichts herumzudeuteln. Papa versucht nur, bei mir zu sein, mehr nicht. Papa macht Fortschritte. Familie ist nicht einfach.
Er legt sich wieder neben mich ins Bett. Diesmal wendet er eine Methode an. Er atmet mit mir im Takt, zunächst also ziemlich schnell. Er beginnt bei meinen einhundertvierzig Schlägen pro Minute. Um mir zu folgen, bringt er seine Pumpe, immerhin sechzig Jahre alt, ganz schön ins Laufen. Er spielt sich in meinen Rhythmus ein, um dann, als er spürt, dass wir eins sind, langsam die Wogen zu glätten. Als er sich meinen Atem zu eigen gemacht hat, schlägt er leise vor, das Tempo umzukehren und seinen Herzschlag zu meinem zu machen. Ich lasse ihn gewähren. Intensive Berührung. Seine Sänger auf der Bühne dirigiert Papa nicht anders. Einen gemeinsamen Rhythmus finden, den Körper einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Musik. Anschließend übernimmt er behutsam die Führung.
Ich bremse ab, lasse mich mitziehen. Eine großartige Viertelstunde lang in vollkommener Gemeinsamkeit. Papa findet meinen Puls. Ich bin auf etwa neunzig Schläge pro Minute herunter. Er beruhigt sich tatsächlich. Und kein Schwindelgefühl, kein plötzlich abfallender Blutdruck?
»Nein, mir geht es besser. Mir ist nicht mehr so kalt.«
Ich schiebe sogar die Decke weg, so warm ist mir geworden; von Übelkeit kein Wort mehr. Für Papa sind das alles ausschließlich positive Anzeichen. Meine Beklemmungen lösen sich langsam. Während er über mein Bein streichelt, schlafe ich ein. Er glaubt, seine Methode habe etwas bewirkt. Lautlos geht Papa hinauf in sein Zimmer.
Eine halbe Stunde später muss ich mich übergeben. Als er mich hört, eilt er sofort herbei. Das Schlafzimmer von Mama und Papa befindet sich im Stockwerk über mir. Es war nicht selbstverständlich, dass er mitbekommt, wie ich in die Kloschüssel erbreche. Selbst im Schlaf musste er seine Antennen auf Empfang gestellt haben. Als er bei mir ist, habe ich meine drei Tropfen bereits ausgespuckt, nichts Gehaltvolles. Papa, den Erbrochenes normalerweise total anekelt, inspiziert minutiös. Denn eigentlich fragt er sich, ob ich nicht irgendeine gefährliche Substanz zu mir genommen habe, Halluzinationen auslösende Pilze zum Beispiel, immerhin hatte ich vor ein paar Tagen mit unschuldiger Miene davon erzählt, nach meiner Rückkehr aus Amsterdam alias Reims.
Schon vorhin hat er mich gefragt: »Du hast wirklich nicht gekifft? Nichts Gefährliches gegessen?«
Seine Fragerei nervt mich wie jedes Mal, wenn es um Drogen geht. Tabuthema. Kiffer hassen es, übers Kiffen zu reden.
»Nein, habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Das nervt, ich habe andere Sorgen!«
Ich schicke ihn zum Mond. Er traut sich nicht, noch einmal damit anzukommen. Papa verzichtet, sind ja nur Nickeligkeiten innerhalb der Familie, völlig normal.
Ich übergebe mich ein zweites Mal, und Papa inspiziert erneut die Kloschüssel. Es war ein leichtes Spiel für mich, Nein und nochmals Nein zu sagen: Denn dieses eine Mal hatte ich tatsächlich nichts geraucht. An jenem Freitagabend, nach meiner Rückkehr im Zug aus Rennes, fand um 18 Uhr im Tischtennisklub in Quimper das Training statt, um 21 Uhr ging es weiter mit dem Auto nach Douarnenez, dann lange Telefongespräche und dieser Zusammenbruch gegen Mitternacht, totale
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