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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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anderen Hand unter meinen Po zu fassen. Papa ist überrascht. Er dachte, diese osteopathische Technik sei rein diagnostisch. Die Knie des längs auf dem Rücken liegenden Patienten anheben lassen, mit der umgedrehten Hand unter den Po gleiten, mit der Handfläche das Kreuzbein berühren und mit den Fingern entlang der Wirbelsäule die energetischen Schwingungen aufspüren – auf der Grenze zwischen Hexerei und Schulmedizin. Obwohl Papa meint, diese osteopathische Methode nütze sowieso nichts, fügt er sich. Wenn ich ihn doch darum bitte. Außerdem will er mir zeigen, dass ich ihn um alles bitten kann, was ich will. Er will mir zeigen, dass er mich liebt.
    Da ich quer über dem Bett liege und er noch immer Kopf- und Rückenschmerzen hat, fasst er nicht so unter meinen Po, wie er müsste. Weder für ihn noch für mich ist die Haltung bequem. Anhaltendes Schweigen. Ich will absolut nicht sprechen. Auch Papa schweigt. Eine angenehme Stille. Er versucht, seine Bewegungen so diskret wie möglich auszuführen. Es hilft nichts. Er versucht es erneut. Endlich gleitet er so beherzt wie nötig mit seinem Arm unter mich. Ich lege meinen Po auf seiner Hand ab und entspanne mich. Werde zentnerschwer und schlafe ein. Papa wartet. Sanft wiegt er mich minutenlang in seinem Arm. Sehr viel später wird er behutsam seine Hand herausziehen, aber Vorsicht, dass ich bloß nicht wach werde, ich ruhe doch so schön. Er zögert einen Moment, aber dann, nein, es hat keinen Sinn dazubleiben, ihm geht’s besser . Ich schlafe friedlich. Weißes T-Shirt, lange, beige Baggy Pants, schwarze Socken: So werde ich sterben. Er geht hinauf, nimmt eine Schmerztablette und legt sich erleichtert schlafen.
    Oh, wie sehr wird er es morgen und auf ewig bereuen, seine Hand nicht auf unbestimmte Zeit einfach dort gelassen zu haben, unter meinem Po!
    Papa trägt die letzten Worte zusammen, die wir miteinander gesprochen haben, bevor ich an diesem Samstag, den 25. Oktober, starb. Als sie mich auf die Trage hoben, auf der ich dann zum Krankenwagen und ins Krankenhaus gebracht wurde, hat er sich auf mein Bett gelegt und mein linkes Bein gestreichelt.
    »Gib alles, mein Schöner, alles, lass dich nicht von der Krankheit besiegen.«
    Nutzlose Ratschläge. Vorhin, als er vom Supermarkt zurückkam, hat er gesagt, ich solle kämpfen. Jetzt sagt er, ich solle nicht verlieren. Das ist das Gleiche, alles nur Worte. Wie ein Trainer am Ring, nutzlose, gut gemeinte Worte, während du voll eine in die Fresse kriegst. Aber selbst am Rande des K. o. fuhr meine linke Hand noch durch sein Haar. Ich tröstete den Trainer, als es an ihm war, mir Kraft zu spenden.
    »Lass dich nicht von der Krankheit besiegen.«
    Er sprach mit tränenerstickter Stimme. Zur Beruhigung lächelte ich ihn an. Er bereut es, wird es sich nie verzeihen, dass er mit zittriger Stimme zu mir gesprochen hat, ohne die geballte Energie, die nötig gewesen wäre. Im entscheidenden Augenblick haben ihn die Gefühle übermannt. Widerliches, schleimiges Gefühlspathos, im Leben wie auf der Bühne. Papa der Allmächtige wäre gern fähig gewesen, der Krankheit den Rückzug zu befehlen. Als ob diese Killerbazille, die systematisch ein Blutgefäß nach dem anderen platzen ließ, seinen Befehlen gehorchen könnte. Er hat nur gezittert, erfüllt von Liebe, Zärtlichkeit und vielem, vielem mehr. Denn seine Worte, sein Gesang und seine Liebkosungen waren keine Befehle, sie waren nichts weiter als ein bereits hoffnungsloses, rührseliges Flehen. Und das ärgert ihn.
    Papa macht sich noch andere Vorwürfe. Der Trubel zu Hause. Überall Feuerwehrleute, Walkie-Talkies mit ihren krächzenden Notrufen, Sanitäter kreuz und quer, weiße Einheitskittel, die sich in meinem Zimmer zu schaffen machen, Infusion, Trage, die hochgebracht werden muss, Notfallkoffer, Laptops, Blaulicht auf der Straße, Gummihandschuhe, Schutzmasken auf den Gesichtern. Papa bemüht sich übereifrig, den Weg für meinen Transport zum Krankenwagen frei zu räumen. Warum hat er die Minuten nicht genutzt und mich noch einmal angeschaut, mich noch einmal berührt und mit mir gesprochen? Sein Aufräumeifer hat mich kein Stück gerettet, ihn sogar von mir ferngehalten.
    Der Tod ist eine Reuemaschine.
    Papa bereut noch etwas viel Schlimmeres: Die Notärztin kommt zu mir ans Bett und bittet mich, ihr meinen Namen, Vornamen, Alter, Geburtstag und Adresse zu nennen. Ich antworte. Sie dreht sich um und stellt Papa die gleichen Fragen, während er noch mit Wegräumen,

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