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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Reinform, Mozart und Pachelbel rieseln leise im Hintergrund. Geflüster. Simons Sarg steht im Raum nebenan. Niemand ist verpflichtet, vor den Sarg zu treten, man kann sich auf die Angehörigen beschränken. Keine Verpflichtung, den Tod aus der Nähe zu betrachten, das Bestattungsinstitut hat für alles vorgesorgt. Papa kommen andauernd sinnlose, spöttische Bemerkungen in den Sinn.
    Mama und Papa betreten selbstverständlich den anderen Raum. Zusammen mit einem Blumenstrauß legen sie einen Abschiedsbrief an ihren Bruder aus der Theaterfamilie auf den Sargdeckel. Als würde er ihn lesen! Papa kann sich noch immer nicht zusammenreißen und kriegt diese geschmacklosen Bemerkungen nicht aus dem Kopf. Dir ist wohl nicht ganz wohl, Papa. Glücklicherweise behält er seine Kommentare für sich. Er konzentriert sich wieder aufs Wesentliche. An Mamas Seite bleibt er lange vor Simon stehen. Sie sehen aus, als würden sie beten. Mama und Papa sind wirklich betroffen. Simon hat ihnen viel bedeutet. Sie streicheln über den Holzsarg, berühren Simon ein letztes Mal.
    Wenig später steht Papa mit Jean-Pierre allein in dem Raum. Völlig unvermittelt wenden sich die beiden Männer einander zu und schließen sich weinend in die Arme, zum ersten Mal umschlungen in gegenseitiger, heterozüchtiger Schwulenliebe, unter dem wohlwollenden Schutz von Simon. Papa und Jean-Pierre hatten sich ihre große Zuneigung bisher noch nicht gestanden. Beim Rausgehen folgen die beiden unverbesserlichen Anarcho-Atheisten sogar dem Brauch und unterschreiben im Kondolenzbuch. Sei es für Catherine und die Zwillinge.
    Danach Trauergeleit vom Funerarium zum Krematorium, Quimper – Carhaix, dreiundsiebzig Kilometer, eine Stunde Autofahrt. In gemessenem Tempo. Allgemeines Sinnieren in den Autos: das Leben, der Tod, Simon, der Selbstmord, die Kunst, die einen Menschen verheizt, die Kinder. Ankunft in Carhaix. Auch das Krematorium ist ein unspektakulärer, quadratischer Bau am Stadtrand. Die Sargträger schauen so ernst wie in Quimper. Erneut angemessene Musik. Als der Leichenwagen eintrifft, begibt sich die Schar der Freunde ins Innere, und die Zeremonie beginnt.
    Tempowechsel, die elterliche Trainingsstunde spitzt sich zu: Die Trauerfeier von Simon wird den Gipfel des Lächerlichen erreichen. In der Mitte der Zeremonienmeister – ZM –, vor ihm ein Rednerpult mit beschrifteten Kärtchen: der Ablaufplan der Feierlichkeiten. Der ZM soll für einen reibungslosen Verlauf sorgen. Er spricht ein paar salbungsvolle Worte in passendem Tonfall, stereotype Floskeln, im Prinzip kein Fehler möglich. Heute jedoch wird die Zeremonie entgleisen, wird alles aus dem Ruder laufen, geleitet von der rachsüchtigen Ägide einer miserablen Theatergruppe. Wenn die Götter dich bestrafen wollten, Simon, dann ist es ihnen wahrlich nicht misslungen, deine Trauerfeier wird zur Farce.
    Der ZM ist unkonzentriert oder ganz einfach eine Null. Als er zu Beginn sagt: »Wir haben uns heute hier versammelt, um unseren lieben …« Mist, da hat er doch glatt vergessen, nach dem Vornamen zu schauen. »Unseren lieben … ähm …«, wer ist eigentlich unser Lieber des Tages? Er kriegt zwar gerade noch die Kurve, doch sein Zögern und der Blick auf seinen personalisierten Ablaufplan waren schwer zu übersehen. In letzter Sekunde fügt er hinzu: »… um unseren lieben Simon zu verabschieden.« Uff.
    Papa glaubt, ihn trifft der Schlag. Dann muss er ein Lachen unterdrücken.
    Nächster Akt der Zeremonie ist das Aufgehen des Vorhangs, geplant als eine Art effektvoller Höhepunkt des Ganzen. Hinter dem Vorhang haben die Sargträger den Sarg so aufgestellt, dass er wie auf einem Thron zur Geltung kommt, zum Publikum geneigt, wie man im Theater sagt, ein in seinem grandiosen Elend aufragender Katafalk. Absolut stereotyp, aber es soll nach etwas aussehen: ein Sarg, der Erstaunen hervorruft. Mit einer unauffälligen Handbewegung schickt der ZM die Kirchenorgeln durch den Verstärker. Toccata in d-Moll von Johann Sebastian Bach . A g aaaaa! G f e d cis, deeeee … Es geht los, volles Pedal, d-Moll-Sextakkord, Dissonanz, Zerrissenheit, Fermate, Auflösung: genial platzierte Sakralwirkung. Gänsehaut. Es geht weiter. Zweiter unauffälliger Handgriff des ZM unter das Pult, durch den während dieses Kirchendonners das Aufgehen des Vorhangs in Gang gesetzt wird. Nur dass …
    Nur dass dieser Vorhang lediglich aus einer einfachen Garagentür in tristem Grau besteht, einem alten Blechtor, das nach hinten

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