Als ich meine Eltern verließ - Roman
streichelt noch einmal über mein Bein, schwenkt die Hand und lächelt. Er meint, ich hätte vage zurückgewinkt. Wenn er sich auch nicht sicher ist, er mag gern an diese Erinnerung glauben.
Im Nu ist die Trage im Schockraum verschwunden, durch die Schwingtüren tauche ich in die hellgrünen Flure ein. Es ist wie im Film, Hektik, knappe Anweisungen, Gerenne. Das Hauptfeld sprintet los, ich an der Spitze, mit den Füßen zuerst. Auf einmal schließt die Sanitäterin eine Schleusentür. Während meine Trage weiter geradeaus in die Notaufnahme geschoben wird, werden Mama und Papa zur anderen Seite geleitet, in den Bereich für Angehörige. Ende des gemeinsamen Wegs.
Papa wird mich erst in einer Stunde wiedersehen, fast tot, kaum noch atmend, kaum noch, nur so lange, bis er begreift, dass mich im Grunde der Apparat am Atmen hält, Vorspiegelung von Leben, ein Schlauch, der aus meinem Mund kommt, Luft geht rein und raus, aber es ist nicht mehr meine Luft, es ist nicht mehr mein Leben, es ist die Luft eines Apparats.
Alles in meinem Körper ist explodiert, meine Adern sind geplatzt, ich bin von oben bis unten blau, sehe aus wie verprügelt.
»Das wäre nicht ratsam«, sagt Christine zum Chirurgen. Christine ist sofort herbeigeeilt, eine gute Freundin, meine Kinderärztin, zwecklos ist der Versuch, ihn noch einmal wiederzubeleben, das Herz erleidet unnötig Schmerzen. Sein Körper und sein Hirn haben bereits solche Schäden erlitten, dass er zu starke Behinderungen aufweisen würde, sollte er noch leben.
In Wahrheit bin ich schon tot, ein Apparat tut nur so, als atmete ich noch. Die Ärzte waren so gütig, die Eltern vor dem Abschalten an mein Bett zu rufen. Mama und Papa sollten glauben können, sie beweinten einen Lebenden. Man gewöhnt sie an meinen Tod. Meine Atmung wird langsamer, kommt zur Ruhe. Zehn Minuten später schaltet sich der Apparat ab, ich bin leise, kein Atem, kein einziges Anzeichen von Leben mehr. Ich bin offiziell um 16 Uhr 17 gestorben.
Mein Sohn! Mein Sohn! Mein Sohn! Ich war dein Sohn, Papa. Diese Worte, die du da singst, »Mein Sohn! Mein Sohn! Mein Sohn!«, werden zu einem Gebet, einem Flehen. Zu wem? Einst Worte des Leben sind sie nun Ausdruck deines Schmerzes. Mein Sohn! Mein Sohn! Mein Sohn! Du denkst auf einmal an Jesus aus Gethsemane, du, der Atheist. Du wiederholst unentwegt: »Warum, warum hast du mich verlassen?« Nur ist es nicht der Vater, der seinen Sohn verlässt, sondern umgekehrt. Du wirst verlassen. Armer, verlorener Papa. Mein Sohn! Mein Sohn! Mein Sohn!
An diesem Abend totaler Verzweiflung kommt Papa die Melodie einer Bachkantate in den Sinn, Heute, heute … »Heute, heute wirst du mit mir im Paradies sein.« Gottes Worte. Dummes Gelaber vom Gott, der zulangt. Papa singt trotzdem. »Heute, heute …«
3. Kapitel
Wir anderen, wir Heiden,
haben auch Pflichten gegenüber
unseren Toten zu erfüllen.
PROSPER MÉRIMÉE
JULI 2003, DREI Monate vor meinem Tod. Papa und Mama fuhren zum Krematorium nach Carhaix, in Trauer um einen befreundeten Künstler. Nachdem sie das Auto auf dem Besucherparkplatz abgestellt haben, gehen sie die letzten fünfzig Meter zu Fuß und sehen zu, wie Simons Leichenwagen angefahren kommt. An dem Tag habt ihr nicht eine Sekunde lang daran gedacht, dass ihr schon bald wieder hier sein würdet, nicht als Besucher, sondern als Hauptpersonen. Nicht der leiseste Verdacht ist euch in den Sinn gekommen. So etwas ahnt man nie vorher.
Dennoch habt ihr euch beide, unwissentlich, im Laufe von Simons Trauerfeier quasi darin geübt. Das ist ein seltenes Privileg.
Genau genommen hatte ihr Training schon zwei Stunden früher begonnen, im sogenannten Funerarium. Wie überall ist auch das in Quimper ein schäbiger, moderner Kasten am Stadtrand. Das Funerarium ist nichts weiter als ein neutrales, nichtssagendes Etwas – weder ein Tempel noch ein Haus, weder feierlich noch schlicht, weder heilig noch behaglich. Im Inneren wechseln sich Mauersteine mit wertloser Kirchendeko ab, Bilder aus Transparentpapier, die an den Fensterscheiben kleben. Ein vom Immobilienmarkt als billig eingestuftes Flurstück, das in schwülstiges Latein umgetauft worden ist. Der Name soll Eindruck schinden; eingezwängt zwischen Garagen und einem Einkaufszentrum, fällt es von außen kaum auf.
Zwei Sargträger nehmen die Familien in Empfang, schwarze Anzüge, vielleicht sogar dunkle Brillen, ernster, betrübter Gesichtsaudruck, wie es sich gehört, sehr professionell. Klassische Musik in
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