Als ich meine Eltern verließ - Roman
gekippt wird wie bei Garagen üblich. Als Bühnenmaschinerie an sich nicht das Schlimmste. Wahrscheinlich bemerkt es normalerweise auch niemand, so eindrucksvoll tritt der Sarg dahinter zum Vorschein. Aber am Tag von Simons Einäscherung hakt auf einmal die Mechanik des Metallvorhangs. Unnormale Geräusche, ein Quietschen inmitten des Orgeldonners, es rappelt und zuckt, der Vorhang klemmt, ist weder zu noch auf. Unruhe macht sich breit. Der Sarg ist nur halb zu sehen, der Effekt vollkommen hinüber, Panne im zeremoniellen Ablauf. Mit vermeintlich unauffälliger Handbewegung drückt der ZM mehrmals hastig unter sein Pult. Vergeblich. Die streng besinnliche Atmosphäre beginnt zu bröckeln, die Anwesenden brechen in Gelächter aus – Simon hat wirklich nette Freunde. Davon unbeeindruckt, treten zwei Sargträger professionell von hinter den Kulissen auf und bringen die Mechanik wieder in Gang. Endlich, der Vorhang kann aufgehen, wenngleich mit erheblicher Verspätung zu Johann Sebastian Bach – in dem Durcheinander hat der ZM die Toccata zu Ende laufen lassen, sodass in aller Ruhe die Fuge eingesetzt hat, ohne dass es beabsichtigt war. A g, a f, a e, a d usw. Genervt stoppt der ZM die CD . Schade um das Kontrasubjekt der Fuge, es bleibt in der Luft hängen. Der Faden der Feierlichkeiten soll wiederaufgenommen werden.
Alles ist grotesk, der ZM , die Musik, der Vorhang, das ganze Spektakel. Würden Mama und Papa nicht weinen, sie würden aus vollem Halse lachen. Lektion Numero eins , murrt Papa: Misstraue schlechten Theatertruppen; Lektion Numero zwei: Geschäftsleute tun heute das, wovon sie annehmen, dass wir es möchten: zum Beispiel dieses dämliche Schauspiel hier . Er ist ratlos. Wie Atheist sein und gleichzeitig an etwas teilnehmen, das, ohne zu überlegen, als sakral bezeichnet werden kann? Laizisten misstrauen allem Sakralen. Mit ihrem Latein, dem Weihrauch, dem Hall in den Kathedralen, den Schatten der Höllenflammen und der endgültigen Erlösung haben früher die Priester noch versucht, ihnen näherzurücken. Doch heute stiften sie damit allenthalben Verwirrung, Entsetzen und Ablehnung. Und haufenweise Klischees . Dank dieser miserablen Zeremonie paukt Papa schon mal, ohne es zu wissen, gründlich für seine bevorstehende Abschlussprüfung: meinen Tod.
Bis ins kleinste Detail ist diese Trauerfeier ein unfreiwillig komischer Horror, der einen das Fürchten lehrt, von der aufgesetzten Miene des ZM und seinem plumpen Umgang mit Symbolen bis hin zur Musik, der reinste Müll, der alles in Mitleidenschaft zieht – selbst die Lieder, »die der Verstorbene mochte«, der großartige Tom Waits und die überragenden Beatles, die jedoch erbarmungslos vom Ave Maria von Gounod und von der Kleinen Nachtmusik von Mozart auf dem Synthesizer eingerahmt werden, und nicht zu vergessen, als Bonus und zur allgemeinen Überraschung, dem Vorspann einer Fernsehserie. Zum krönenden Abschluss Blütenblätter aus Plastik, die »den hier Versammelten zur Verfügung stehen«, um »wie Regentropfen als letzte Huldigung an den Verstorbenen« auf den Sarg gestreut zu werden. Das ist der Gipfel. Papa schwankt zwischen Erbrechen und Weinen vor Lachen. Der Philosoph entscheidet sich für höhnisches Gelächter angesichts solcher Geschmacklosigkeit und Heuchelei.
Allein, was nicht in die abgeschmackte Darstellung eingebaut wurde, kann sich dem Lächerlichen entziehen: Worte und Lieder Simons enger Freunde.
Letzter Akt in dieser billigen Show. Der Vorhang ist wieder zugegangen – dieses Mal ohne Zwischenfall. Man kann die Sargträger dahinter hören, wie sie den Sarg zum Ofen bugsieren. Fade Musik zur Überbrückung, ein stumpfsinniger Pausenfüller wie früher in den Sechzigern, wenn der Fernsehsender eine Störung hatte. Das neue Bühnenbild ist lediglich fünf oder sechs Nahestehenden vorbehalten – »mehr leider nicht, der Platz ist begrenzt«. Von einem gläsernen Raum, wie das Besucherzimmer in einem Gefängnis, ruft der ZM zur Einführung des Sargs in den Schlund des Ofens. Gefolgt von vier nahen Angehörigen, geht Catherine, Simons Lebensgefährtin, zur letzten Besichtigung des Sargs. Von der Leichenhalle bis zum Krematorium war man tatsächlich von einer letzten Besichtigung zur nächsten gegangen: der Tote vor der Einsargung, der Tote im Sarg, der Deckel, der über ihm geschlossen wurde, dann der schwere, massive Sarg im Krematorium und jetzt, vor der Ofentür, der Sarg, in dem der geliebte Körper verbrennen wird. Eine Flut
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