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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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das Briefmarkenalbum gegen ein Trikot der Mannschaft von Monaco und ging zum Fußball über. Ich gesellte mich an dem Abend dazu, weil ich Simon mochte. Eine Party aus Anlass einer Bestattung, das ist schon komisch, das hatte ich nicht erwartet, Lachen und Weinen im Wechsel, Büfett, Musik, Zigaretten und Alkohol, liebevolle Erinnerungen und ernüchternde Trostlosigkeit. Aber das passte gut zu Simon. Hier tiefste Bestürzung, während dort hemmungslos getanzt wird. Papa, erfreut über mein Kommen, erklärt mir, dass dieses sympathische Tohuwabohu wie das Leben sei, das nach dem Tod einen neuen Anfang versucht, mit allen erdenklichen Rückschlägen. Ich verstehe nur Bahnhof. Aber egal.
    Es wird viel getrunken.
    Drei Tage nach Simons Feuerbestattung in Carhaix folgt der letzte gemeinsame Akt vor der endlosen Zeit der echten Trauer, der Einsamkeit für Catherine und die Zwillinge allein zu Hause. Spärliche Versammlung auf dem Friedhof von Penhars, auf dem Vorplatz der Urnenhalle. Ich bin an dem Morgen auch dabei, warum, weiß ich nicht. Es ist sehr heiß. Zwei Totengräber in Jeans und Unterhemd stellen die Urne ab und kleiden ein Minigrab im Urnenformat mit Zement aus. Ein paar Minuten lang verharren wir andächtig. Alles geht sehr schnell. Ende der Feierlichkeiten.
    Ende des Trainings für Mama und Papa. Bis in drei Monaten, wenn ich an der Reihe bin.

4. Kapitel
    Ein Kind hat man nicht gehabt,
man hat es für immer.
    MARINA ZWETAJEWA
    SAMSTAG, 25. OKTOBER 2003. Die Bestattungsmaschinerie setzt sich in Gang, kaum dass ich meinen letzten Atemzug getan habe. Mama und Papa sind noch nicht ganz von den Reanimationsräumen des Krankenhauses in der Leichenhalle angekommen, da müssen sie bereits einen Rhythmus anschlagen, der ihnen ganz und gar nicht liegt. Sie wähnen sich noch ganz bei mir, als man bereits von ihnen verlangt, sich mit meinem Verschwinden zu beschäftigen. Sie wollen nicht? Das steht nicht zur Debatte: Der Bulldozer am Kopf des Trauerzugs zieht unerbittlich voran. Papiere, Familienstand, Versicherungen, Bestattungsinstitut, Budget, Zeitplanung, Ablauf, Dekoration, Kleidung, Musik, Holzart für den Sarg, Weg des Leichnams zwischen Aufbewahrungshalle, Krematorium und Friedhof, Empfang der Familien, Freunde, Presse … In wenigen Stunden muss alles organisiert sein. Deine vertrautesten Ankerpunkte lösen sich gerade aus der Halterung, und du sollst ständig zu irgendetwas Ja oder Nein sagen. Bei jeder Gelegenheit wollen Mama und Papa das Handtuch werfen, doch das automatisierte Monster folgt seinem Weg, und sie weichen immer weiter zurück, von Niederlage zu Niederlage. Wohin? Gegen ihren Willen steuern sie geradewegs auf mein Grab zu.
    Kaum haben sie die Leichenhalle verlassen, steht der Thanatopraktiker vor ihnen, der ihnen anbietet, meinen Körper für zweihundertfünfundsiebzig Euro zu präparieren. Was soll denn bitte das jetzt? Der Concierge versucht zu vermitteln. Die Eltern verstehen kein Wort. Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und reicht ihnen einen Prospekt, »… lässt den Verstorbenen wie schlafend aussehen … das Schreckensgesicht des Todes vergessen … entdramatisieren … um ein pietätvolles und friedliches Bild vom Verstorbenen zu wahren …«. Reine Werbesprache. Papa redet wirres Zeug. Was will er denn präparieren, dieser Figaro? Ein sorgfältiges Make-up, ein friedvolles, ewig währendes Lächeln? Nein, wir werden doch den lila und blau explodierten Körper unseres Sohnes nicht in eine billige Operettenleiche verwandeln lassen? Zwei aufgeschreckte Raubtiere aus der Wildnis geraten in der unbekannten Wüste der Leichenhalle in Panik. Und außerdem: Dieser Kostenvoranschlag von zweihundertfünfundsiebzig Euro, ist er mit oder ohne Mehrwertsteuer? Selbstverständlich inklusive Mehrwertsteuer! Jetzt ist aber doch nicht der Moment, daran herumzunörgeln, wie man den einer Leiche zugefügten Mehrwert einsackt! Papa kriegt sich wieder ein. Thanatopraktiker? Diesen Ausdruck hat er noch nie gehört, eine Mischung aus einem Fährmann über den Styx und einem Schönling vom Strand. Er gerät wieder in Rage: Zweihundertfünfundsiebzig Euro, das soll kein Betrug sein? Was kostet das Make-up eines Toten? Chaos. Papa weint. Mama auch. Ihre angeschlagenen Köpfe rauchen wie verrückt. Der Concierge der Leichenhalle wartet ab. Er kennt das. Jeden Tag sieht er Leute vor sich wie Mauern zusammenbrechen. Er versucht zu helfen, zu vermitteln, darauf kommt es in seinem Job an, auf Geduld und

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