Als ich meine Eltern verließ - Roman
kleinen getauften und gefirmten Kopf eingeprägt, viel tiefer als seine philosophischen Überzeugungen. Seine Neuronen sind auf Erdbestattung programmiert.
»Feuerbestattung«, wiederholt Mama, dieses Mal ohne Fragezeichen.
Papa verfällt in katatonische Starre. Unbewusst ist er also für sich immer von Erdbestattung ausgegangen und folglich mit althergebrachter, patriarchalischer Selbstverständlichkeit auch von Erdbestattung für alle seine Lieben. Nicht einfach, das Programm zu korrigieren. Die Bestatter üben sich in Geduld. Hunderte Male haben sie diesem Spielchen schon zugesehen mit all seinen sozial und religiös geprägten Varianten. Heutzutage geht die Tendenz eher Richtung Feuerbestattung, aber wer will in der Leichenhalle schon etwas von Trends hören. Diskret zieht sich der Leiter des Bestattungsinstituts zurück.
Damit der Gedanke der Feuerbestattung in seinem Gehirn bis an die Nervenenden gelangt, muss Papa sich selbst eingeäschert vorstellen. Wenn sie meinen Körper nun einäschern, muss er seinen eigenen Leichnam auch verbrennen lassen, wenn er stirbt – er wird sich schließlich nicht abseits von seinem Sohn begraben lassen. Außerdem will Mama offensichtlich auch eingeäschert werden und an meiner Seite sein. Er würde allein abseits in seinem Grab liegen. Man hat Papa in die Irre geführt. Er in einem Krematorium? Vor seinem geistigen Auge erscheint auf einmal ein riesiger Scheiterhaufen. Wo kommt denn dieses Bild nun wieder her? Kaum hat er die Frage ausformuliert, weiß er die Antwort: aus In 80 Tagen um die Welt von Jules Verne. Die Gravurzeichnung hatte ihm damals als kleinem Jungen Angst eingejagt. Wenn er sich richtig erinnert, wurde in dem Buch eine indische Witwe zusammen mit ihrem bereits verstorbenen Mann bei lebendigem Leib verbrannt. Das Bild hatte großen Eindruck auf ihn gemacht – wie man sieht, erscheint es noch heute wie von selbst. Die Bestatter warten, es muss eine Entscheidung her. Papa dreht sich im Kreis. Nach der Bibel tapert er nun durch Kinder- und Jugendromane, einen besseren Zeitpunkt hätte er nicht finden können !
Im Augenblick von Papas ureigensten, gedanklichen Verrenkungen bekräftigt Mama: »Feuerbestattung: So können wir Lion mitnehmen, wenn wir umziehen.«
Mama sagt nicht: »die Asche mitnehmen«; sie sagt: »Lion mitnehmen«.
Der Gedanke wegzuziehen löst Papa aus seinem Lähmungszustand. In diesen unheilvollen Stunden ist ihm im Grunde alles egal, außer Mama zu verlassen. Mama hat soeben gesagt, dass sie überlegt wegzuziehen. Auf einmal akzeptiert er zwar nicht wegzugehen, aber doch zu tun, was sie will. Er wird überallhin gehen, Hauptsache, sie ist dabei. Und somit eben auch meine Asche.
»Okay, einverstanden, Feuerbestattung.«
Papa macht einen großen Schritt hin zum liebenswürdigen und doch scharfsichtig aufgeklärten Humanismus.
Kaum haben sich Papas metaphysisch aufgeheizte Schranken gehoben, geht die Flut der Fragen weiter.
»Welcher Friedhof, Quimper oder Douarnenez?«
Mama wagt es nicht auszusprechen, aber sie würde die Asche gern zu Hause aufbewahren. Sie holt weit aus. Doch da fährt ihr Papa fast jähzornig dazwischen, zumal noch im Schwung seiner aufgewärmten Beklemmungen, und fällt ihr hart ins Wort.
»Die Toten zu den Toten!«
Er will, dass meine Asche auf den Friedhof kommt.
»Die Toten zu den Toten, ich will zu Hause nicht x-mal am Tag an Lions Asche vorbeilaufen.«
Vielleicht ist es jetzt an Papa zu entscheiden. Mama gibt nach. In diesem Moment bin ich jedenfalls sowohl für den einen als auch für die andere noch nicht wirklich tot. Sie erwidern letztendlich: »In Douarnenez.«
»Da gibt es vier Friedhöfe! Welchen? Douarnenez Tréboul, Douarnenez Ploaré oder Douarnenez Sainte-Croix? Oder Douarnenez Pouldavid?«
Sie sind offensichtlich völlig unvorbereitet. Sie kennen die Örtlichkeiten nicht einmal, außer den großartigen Marinefriedhof. Einer der Bestatter greift zum Telefon und fragt nach. Der Friedhof von Tréboul ist voll. Eigentlich, so sagt man ihnen, haben sie gar keine Wahl, die Zeremonie kann nur in Sainte-Croix stattfinden, denn dort befindet sich die einzige Urnenhalle von Douarnenez.
»Nun, da wir keine andere Wahl haben …«
Jetzt muss man noch auf den Sarg zu sprechen kommen: die Farbe – braun, schwarz oder weiß? –, die Form, das Holz – Edelholz oder Pinie? –, die Verkleidung – Innenpolster aus Seide oder Synthetik? –, die Griffe – silbern? Sie haben die Wahl. Und die
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