Als ich meine Eltern verließ - Roman
Ankündigung in der Zeitung – lokal, national? Die Todesanzeige? Das Essen, die Unterbringung der Freunde, die Telefonanrufe, die Mails? Wer kümmert sich darum? Brauchen Sie Unterstützung? Noch immer bringen sie keine ganzen Sätze über die Lippen. Sie können kaum einen klaren Gedanken fassen. Sagen einfach irgendetwas, dass ich einundzwanzig Jahre alt war, dass … Das ist für die Trauerfeier nun gar nicht von Bedeutung. Also sagen sie, dass sie sich nicht sicher sind, dass … Halt, sie können nicht mehr. Totale Verwirrung. Der Leiter des Bestattungsinstituts hat Verständnis. Da aber trotzdem alles heute noch organisiert werden muss, schlägt man ihnen vor, eine Pause einzulegen und den Katalog mit Bildern und Preisliste des Bestattungsinstituts zurate zu ziehen; sie mögen ruhig einstweilen in der Broschüre blättern und ihnen später ihre Entscheidungen mitteilen. Mama und Papa verlassen das Bestattungsinstitut, sie brauchen dringend frische Luft. Sie setzen sich auf eine Bank. Neben ihnen die Statue von Laennec und ein Karussell. Das Krankenhaus, in dem ich gestorben bin, heißt auch Laennec. Die Kunst der Ärzte hat mich nicht gerettet, hasserfüllt schauen sie die Statue an. Das Karussell? Es ruft zu viele Erinnerungen wach. Sie weinen.
Wenig später. Gebeugt sitzen sie über dem Katalog des Bestattungsinstituts. Grabmale aus Marmor, künstliche Blumen, in Granit gemeißelte, rührselige Sprüche. »Deine Ruhe sei sanft wie edel dein Herz«, »Die Zeit vergeht, die Erinnerung bleibt ewig«, »Danke für deine Liebe« … Flash: vergangener Juli in Carhaix! Plötzlich werden sie sich der drohenden Katastrophe bewusst. Eine dermaßen geschmacklose Trauerfeier kommt nicht infrage! Puh, endlich haben sie wieder einen Anker zum Festhalten gefunden. Nicht noch einmal so ein Zirkus wie bei Simons Trauerfeier. Sie klammern sich an diesen dünnen Zweig. Ein gewaltiger Schwall Energie fährt auf einmal in sie. Danke, lieber Freund Simon . Sie haben sich wieder gefangen, werden die Dinge auf jeden Fall selbst in die Hand nehmen: nein zum Katalog, nein zu vorgefertigten Trauerfeiern, nein zur überkommenen Leere, nein zu allem.
In Wirklichkeit versuchen sie, Nein zum Tod zu sagen.
Zurück im Büro des Bestatters, erklären sie mit unnötiger Härte, dass sie sich zu Tode schämen würden, wenn es zu einer solch armseligen Trauerfeier käme wie der, an der sie letzten Juli teilgenommen hätten. Ihr Schmerz sei größer. Die Angestellten des Bestattungsinstituts tun, als hätten sie den Vorwurf nicht gehört – Angehörige der Verstorbenen reagieren häufig überzogen. Die Eltern haben entschieden, dass sich meine Totenfeier an den Grenzen des Spektakels und des Sakralen abspielen wird. Sie können meinen Tod nicht im Geringsten akzeptieren, aber wenn es sein muss , wollen sie, dass meine Bestattung einmalig wird. Nicht eine Sekunde lang wird sie irgendwelchen Klischees unterworfen sein.
»Nicht eine Sekunde, verstehen Sie, nicht eine!«
Mama und Papa wollen alles Wichtige der Feierlichkeiten selbst in die Hand nehmen, alles, von der Leichenhalle bis zum Grab. Erstens, es kommt nicht infrage, die Kirche einzubeziehen. Zweitens, auch die laizistische Standardversion kommt nicht infrage. Sie weisen alles von sich – den ZM , die CD s, den Ablauf bis hin zu den Sarggriffen, an denen Mama nicht eine Spur lächerliches Silber glänzen sehen will – Rachel wird sie mit weißem Stoff umwickeln. Trotz der in Aussicht stehenden Schwierigkeiten schweigen die Bestatter höflich. Sie haben es mit Eltern zu tun, die sich in die Schlacht gestürzt haben gegen … Wogegen eigentlich? Gegen das Vergessen , denkt Papa. Damit Lions Tod noch ein Moment des Lebens sei, nicht ein Moment des Nichts. Dieser Gedanke gibt ihm einen Kick. »Es lebe das Leben«, sein alter Refrain tritt wieder ins Rampenlicht, »trotzdem.« Er glaubt noch immer daran. An etwas zu glauben ist für den Kampf von grundlegender Bedeutung.
Mama und Papa weigern sich, mit dem Garagentor, diesem lächerlichen ersten Akt, zu beginnen.
»Wenn die Leute das Krematorium betreten, wird der Sarg für alle sichtbar aufgestellt sein«, erklären sie.
»Aber unser Personal wird die Blumen anordnen müssen …«
»Ja und? Wen stört es, wenn die Sargträger die Blumen um den Sarg drapieren? Das ist doch absolut menschlich, Blumen hinlegen, völlig normal, oder?«
Als sie das Zögern bemerken, stellen sie ein für alle Mal klar: »Natürliche, keine
Weitere Kostenlose Bücher