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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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mitunter Herzlichkeit – die Leichenhalle heißt nicht mehr Leichenhalle, sondern Mortuarium, Trauerhalle, Trauerzimmer, das ist weniger abschreckend. »Selbstverständlich haben Sie das letzte Wort. Aber man sollte es realistisch sehen: Es ist Samstagabend. Zweihundertfünfundsiebzig Euro, das ist der Wochenendpreis. Morgen ist Sonntag. Erst am Montag besteht wieder die Möglichkeit, sich bei der Konkurrenz zu erkundigen, um Kostenvoranschlag und Leistung zu vergleichen. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber angesichts der speziellen Krankheit, an der Ihr Sohn verstorben ist, wird sich sein Körper höchstwahrscheinlich sehr schnell zersetzen. Es tut mir sehr leid.« Schweigen. »Es wäre besser, Sie ließen nicht mehr so viel Zeit verstreichen.« Erneutes Schweigen, die Informationen müssen sich ihren Weg bahnen. »Der Thanatopraktiker ist seriös, glauben Sie mir.« Von der Paranoia erlöst und die Kehrtwende zurück zur Realität vollzogen, wo wir nun schon mal dabei sind , unterzeichnen Mama und Papa das Auftragsformular. Die Trauer ist eine Schule in Realismus. Realismus kann tödlich sein . Papa weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht.
    Das bedeutet allerdings, und das ist das Schlimmste, so viel wie: gesagt, getan – der Fachmann nimmt den Leichnam an sich und macht sich auf den Weg. »Einen Moment noch!«, ruft Papa. Vergebens, er ist weg, der Thanatopraktiker ist bereits mit mir um die Ecke verschwunden. Nur noch das Geräusch der Rollen auf dem blitzblanken Bodenbelag der Leichenhalle ist noch zu hören.
    Als mein Körper in das Trauerzimmer Nummer sieben zurückkehrt, ist er zurechtgemacht wie ein richtiger Toter, mit lang gestreckten Beinen unter einem weißen, an der Hüfte umgeklappten Laken und den Kopf auf ein Kissen gebettet. Nichts mehr von dem Geschundenen zu erkennen, den sie vor weniger als zwei Stunden im Schockraum haben sterben sehen. Man hat mir die sauberen Sachen angezogen, die sie in Douarnenez geholt haben. Mein durch die Meningitis von lila Flecken gezeichnetes Gesicht haben sie gebührlich behandelt. Im Prospekt stand, dass durch die Behandlung des Thanatopraktikers die Verwesung des Körpers verzögert würde, »wodurch Hygieneprobleme wie Absonderungen, oder unangenehme Gerüche vermieden werden«. Papa traut sich nicht, näher heranzugehen. Hat der Thanatopraktiker Klebstoff zwischen die Kiefer geschmiert? Und meine Körperöffnungen? Er fragt nicht nach. Er hat wegen sich selbst Angst, wegen später, vor allem wegen der Zähne – das Gefühl zusammenhaftender Zähne findet er scheußlich. Als hätten Tote noch Empfindungen! Der dort liegende Körper, nun kalt und steif, ist letzten Endes trotzdem ihr Sohn, als Lebender ein schöner junger Mann und als Toter bläulich rot verfärbt. Ich bin so rätselhaft wie noch nie. Als Kompromiss hat der Thanatopraktiker einen akzeptablen Leichnam geschaffen.
    Mama kann ihn nicht akzeptieren. Und du, Papa, kannst du es? Nein. Ja. Nein. Ja. Papa schwankt.
    Montag, viele andere Entscheidungen sind zu treffen. Die Kleidung des Toten? Bereits beschlossene Sache, Alltagskleidung. Nächste Frage: Tag der Trauerfeier? Dazu fällt ihnen nur eins ein: »So spät wie möglich!«
    Das wäre übermorgen, laut Zeitplan des Bestattungsinstituts. Und nun die andere wichtige Frage: Erdbestattung oder Feuerbestattung? Sie schauen sich an. Sprachlos. Sehr lange werden sie schweigend dasitzen. Sie haben da keine Vorlieben, sie wollen nicht, dass ich tot bin, das ist alles. Aber darum geht es nicht. Erd- und Feuerbestattungen plant man auf unterschiedliche Weise. Wie lautet also ihre Entscheidung? Der Leiter des Bestattungsinstituts stellt die Frage noch einmal, gar nicht so einfach, aber das gehört zu seinem Beruf. Mama und Papa starren sich noch immer an, sofern sie überhaupt etwas sehen. Gespannte Stille. Selbstverständlich hat man Verständnis, aber … Man wartet ab. Langes Schweigen beiderseits.
    Endlich stammelt Mama fast unhörbar: »Feuerbestattung?«
    Papa will das nicht, er kann nicht. Erstens findet er jegliche Vorstellung von heißen Temperaturen unerträglich. Darüber hinaus haben die Überreste des Katholiken in ihm noch nie einen Gedanken an Feuerbestattung verschwendet, nie. Mama sind die Posaunenklänge der Apokalypse ziemlich egal, genauso wie das Jüngste Gericht, das neue Jerusalem, die glorreichen auferstandenen Körper und all das Trara. Papa ist das auch egal, aber bestimmte Worte und Bilder haben sich nun mal in seinem

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